Frei und lauter - Begegnung mit Meister Eckhart
Seminar mit Gerhard Marcel Martin und Elisa-Maria Jodl.
Ein Werkstattbericht
Autorinnen: Elisa-Maria Jodl, Giselheid Bahrenberg
Zur Tagesstruktur
Jeder Morgen empfängt uns zum schnellen Gehen um den Quellbrunnen im Hof; das anschließende Sitzen in kontemplativer Stille beginnt mit Vokaltönen; vor dem Frühstück eine kurze Textrezitation. Am Vormittag ein Einstieg mit Dehnungsübungen und Körperwahrnehmung, dem eine Ausdrucksgestaltung in Verbindung mit einem Text von Meister Eckhart folgt. Wir finden Worte für das Erlebte und teilen es in der Gruppe. Am Nachmittag geschieht Weiterarbeit oder Vertiefung, wieder mit Körperwahrnehmung, und wieder in Verbindung mit einem Eckhart-Wort. Mit dieser Erfahrung gehen wir nach draußen in die Natur und bringen das dort Erlebte in die Gruppe zurück. Am Abend hören wir einen Vortrag, der über Eckhart und seine Zeit informiert, Zusammenhänge aufzeigt und zur Reflexion anregt. Ein schnelles Gehen im Raum leitet über zur kontemplativen Stille, die den Tag beschließt.
Diese fein abgestimmte Tagesstruktur ermöglicht innert wenigen Tagen eine intensive, ganzheitliche Begegnung mit Meister Eckhart.
Ein Vier-Tage-Weg mit Eckhart-Texten: Einige wesentliche Elemente
– Worte unter dem Kopfkissen
Zu einer ersten Begegnung mit Meister Eckhart führt ein Losverfahren. 30 kurze Texte aus den deutschen Predigten und Traktaten, eine homöopathische Dosierung, je auf ein A4-Blatt geschrieben. Jede und jeder zieht einen Text. „Legt ihn euch unters Kopfkissen. Lasst euch von diesem Text durch die Tage begleiten!“ im Gruppenprozess kommen sie immer wieder in den (sich verändernden) Blick.
– Weitere Text-Erfahrungen
„Je mehr sich die Seele gesammelt hat, umso enger ist sie, und je enger sie ist, umso weiter ist sie.“ (QT 250)*
* QT = Meister Eckhart. Deutsche Predigten und Traktate (hg. u. übersetzt von Josef Quint) 1969
Im Dehnen, Zusammenziehen, Weiten und Erspüren des Körpers erfahren wir Enge und Weite, nicht als Gegensatz, sondern überraschend gleichzeitig. Was ist, wenn die Seele nicht im Körper wohnt, sondern umgekehrt der Körper in der Seele? Die Seele wird nicht, sie ist schon eng und weit zugleich. Denn das göttliche Licht ist in ihr und führt hinein/hinaus in die Weite, in das Sein Gottes.
„Wer das Leben fragte tausend Jahre lang: ,Warum lebst du?‘ – könnte es antworten, es spräche nichts anderes als: ,Ich lebe darum, dass ich lebe‘“.(QT 180)
In einer Partnerübung fragt A fünf Minuten lang B immer wieder: „Warum lebst du?“ B antwortet, unkommentiert von A; dann Rollenwechsel. Der Austausch führt hin zu dem grundlegenden Gedanken der Grund- und Absichtslosigkeit, zu dem „sunder warumbe“ (ohne Warum).
„Gott erkennt nichts als nur Sein... Soweit unser Leben ein Sein ist, soweit ist es in Gott... Ein Leben mag noch so gering sein, fasst man es, sofern es Sein ist, so ist es edler als alles, was je Leben gewann... Ja, erkennte man selbst nur eine Blume so, wie sie ein Sein in Gott hat, das wäre edler als die ganze Welt.“ (QT 192)
Wir gehen in die Natur mit dem Auftrag: Findet etwas, das Sein hat. Das Teilen in der Gruppe später macht bewusst, dass wir auf unserem Weg präsenter waren als sonst, anders hingeschaut und hingelauscht haben als gewöhnlich und so überraschende Begegnungen in der Natur hatten, die vom Sein erzählten.
Die neutestamentliche Geschichte von Maria und Martha (Luk 10,38-42):
Wir erleben mit ihr eine Sequenz klassisches Bibliodrama. Allerdings anders als üblich liest Partner/in A Partner/in B die Geschichte ins Ohr vor, so wird sie hörend aufgenommen.
Nach einer Vorbereitung in Kleingruppen wird sie als Skulptur aufgestellt, jeweils drei Personen. Eine Skulptur ist eine im Moment eingefrorene Darstellung. Nach eingehender Betrachtung werden Assoziationen genannt, danach entsteht ein Austausch zwischen Betrachtern und Betrachteten. Nachdem alle fünf Kleingruppen dargestellt hatten, liest Marcel Martin aus der Predigt 28 Meister Eckharts kühne, von der Auslegungstradition abweichende Deutung vor: Martha ist aus seiner Sicht die spirituell reife, tätige Frau; sie sorgt sich hier um Marias Seelenheil, wenn diese zu Füßen des Meisters kleben bliebe.
„Du musst wissen, dass sich noch nie ein Mensch in diesem Leben so weitgehend gelassen hat, dass er nicht gefunden hätte, er müsse sich noch mehr lassen.“ (QT 57)
Loslassen, sich lassen, sich überlassen, sein lassen – damit wieder ein Weg in die Natur: Wo schauen, hören, spüren wir dieses Lassen und Loslassen? Im eigenen Sein und in dem, was im Augenblick begegnet. Sowie im anschließenden Austausch in der Gruppe.
In platonisch-plotinischer Tradition unterscheidet Meister Eckhart immer wieder zwischen „zeitlich/sterblich“ und „ewig“, zwischen „Geborenheit“ und „Ungeborenheit“, zwischen „Werden“ und „Sein“, zwischen „Gott als Beginn aller Kreaturen“ und „Gott über allem Dasein“ (so auch QT 308f.). Damit lassen sich zwei mit Bambusstöcken voneinander getrennte Bewegungs- und Meditationsräume einrichten. Den inneren Impulsen folgend entsteht ein Weg, ein Prozess, das Erspüren und Erkunden dieser beiden Bereiche und der Übergänge zwischen ihnen.
„Weite“ – Entgrenzung
Immer wieder sind wir bei Meister Eckhart auf die Spur der „Weite“ gestoßen, von Anfang an. Dazu werden wir schließlich behutsam, im Seminarraum am Boden liegend, in eine Körpermeditation hineingeführt, in der wir am Ende Offenheit und Weite über unseren Körper hinaus spüren – Entgrenzung. In einem zweiten Schritt vertiefen wir diese Erfahrung draußen in der Natur, mit dem Hinweis, uns nicht zu verlieren, sondern zurückzukommen. Der Austausch in der Runde zeigt, wie mächtig diese Entgrenzungserfahrung sein kann, und dass sie in der Regel einhergeht mit einer präzisen, sehr klaren und intensiven sinnlichen Wahrnehmung im Hören, Sehen, Spüren dessen, was uns auf unserem Weg begegnet.
Wolfgang, ein Teilnehmer
schreibt dazu: Von und über Meister Eckhart hatte ich bereits früher etwas gelesen. Marcel Martin weckte meine Neugierde für diesen Seminar-Workshop sofort.
An Meister Eckhart faszinierte mich sein analytischer Verstand und sein absolut striktes Vorgehen beim Aufbau und der Struktur seiner Philosophie und der Darstellung seines Gottesbildes.
Dieser Workshop setzte nun einen anderen Schwerpunkt: Der große Bogen seiner Gedanken, die Weite seiner mystischen Vorstellungskraft – neben der mutigen Kritik an manchen Erscheinungsformen der Religionsausübung.
Der Umgang von Marcel Martin mit solch komplexen Themen war mir nicht neu. Mir gefällt daran der abwechselnde – manchmal auch gleichzeitige – Einsatz von Verstand (=Erklärungen, Diskussionen), zusammen mit Körpererfahrung und Gefühl in kreativen Übungen und szenischen Darstellungen, z. B. Skulpturen. Die Verknüpfung von Wort bzw. Wort-Assoziationen mit greifbaren (wörtlich!) und spürbaren Erfahrungen des eigenen Körpers mit Bildern, die – beabsichtigt und unbeabsichtigt – durch die Darstellung von Begriffen und Szenen durch die Teilnehmenden (einzeln und in Gruppen) hervorgerufen werden, erweitert und erleichtert den Zugang zu sonst nicht leicht verständlichen Inhalten.
Eingerahmt wurde das Ganze durch meditative Übungen. Mit „eingerahmt“ meine ich kein dekoratives Beiwerk, sondern etwas, das wie ein Rahmen einem Kunstwerk Struktur, Stabilität und Halt gibt und so zu einem wesentlichen Bestandteil des Kunstwerks selbst wird.
Den Benediktushof kannte ich noch nicht. Ich habe mich von Anfang an der Stille und Achtsamkeit des Hauses gerne hingegeben als einen wohltuenden Kontrast zum Leben „draußen“. zu Beginn fragte ich mich, ob ich den Tagesablauf (Beginn: 5.45 Uhr) wohl durchhalten würde. Doch es fiel mir nicht schwer. Im Gegenteil: Trotz der langen Tage fühlte ich mich am Ende der Woche erholt.
Ich freue mich aufs nächste Mal!
Elisa-Maria Jodl-Huppenbauer, 1. Vorstandsvorsitzende WFdK, ev. Pfarrerin i.R.,Giselheid Bahrenberg, ev. Pfarrerin i.R. und Wolfgang Diederich (Teilnehmender)
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