Würzburger Forum der Kontemplation e. V. (WFdK)

Kontemplation, was ist das?

 

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Johannes Sell

Kontemplation - lebendige Wirklichkeit
Was ist Kontemplation?

"Kontemplation" bezeichnet eine grundlegende Weise, dem Leben zu begegnen: Mich der Wirklichkeit öffnen, mich ihr wach anzuvertrauen und mich mit ihr versöhnen zu lassen. Dies steht für mich zugleich für den innersten Kern des Glaubens, wie er in unserer christlichen Tradition von den Erfahrenen, den Mystikerinnen und Mystikern, bezeugt wird. Erfahrung erschließt sich freilich nur dem, der sich auch selbst auf einen solchen Erfahrungsweg begibt. Begebe ich mich auf einen solchen Weg, führt er mich nicht in eine andere, bessere Welt neben oder außerhalb meiner Alltagswelt, sondern mitten hinein in meinen Alltag. Ziel des kontemplativen Weges ist nicht eine andere Welt, sondern anders da zu sein in der Welt. Ein grundlegender Perspektivwechsel kann sich ereignen, wenn ich die Tiefendimension des Alltags zu erkunden suche.

"Kontemplation" bezeichnet nicht nur die Erfahrung der Tiefendimension der Wirklichkeit, sondern auch den Weg, der in diese Erfahrung führen kann, eine Übung. Die Übung besteht äußerlich in etwas sehr Einfachem: Achtsam gegenwärtig sein im Sitzen und Gehen, im Schweigen. In der Innenwahrnehmung ist das Üben ungleich vielfältiger. Ich will versuchen, drei charakteristische Innenbereiche der Kontemplationsübung zu umreißen.

Einübung in Stille

In der Kontemplation übe ich mich im Schweigen.

Ich versuche das Viele, das mich umtreibt, zur Ruhe kommen zu lassen. Meine Gedanken, Gefühle und Empfindungen nehme ich zwar wahr, lasse sie aber los. Ich gehe den Weg, einzukehren aus der Vielfalt in die Einfalt.

Ich tue das, indem ich mich auf die einfache Übung einlasse, nur eines zu tun: diesen einen Atemzug, diesen einen Schritt.

Es ist eine paradoxe Erfahrung, dass es durchaus intensiver Anstrengung bedarf, nichts zu tun, nicht meinen Plänen und Sorgen, meinen Bildern und Vorstellungen zu folgen, sondern bei der Übung des einen zu bleiben und ganz einfach zu werden. Im einfachen Da-Sein versuche ich, meine Alltagsaktivität gelassen wahrzunehmen und mich von ihr zu lösen, um damit den Raum zu schaffen, in dem das, was meine eigenen Vorstellungen und Bilder, Pläne und Sorgen überschreitet, mir begegnen kann.

Die Übung der Kontemplation kann helfen, meinen Wahrnehmungsraum zu öffnen und von Verstopfungen und Blockaden zu reinigen. Wie eine Flöte nicht klingen kann, solange ihr Resonanzraum verstopft ist, so versuche ich meinen inneren Raum resonanzfähig zu machen. Dabei kann ich erfahren, dass die Stille, in die ich eintrete, nicht nur Leere im Sinn von Abwesenheit von etwas ist, sondern zugleich Fülle, gestillt zu werden in der Fülle der Gegenwart.

Der Perspektivwechsel auf dem Weg in die Kontemplation heißt hier, dass ich meine eigene Aktivität nicht für das Wichtigste halte, sondern empfänglich werde und ins Staunen komme über das, was wirklich gegenwärtig ist. Ich nehme wahr, woraus ich lebe, dass das Leben mich sucht und sich mir schenkt und ich mich in diesen Grund hinein lassen kann.

Einübung ins Zeitliche

Die Kontemplationsübung ist eine bildlose Weise des Übens. Das unterscheidet sie vielleicht am deutlichsten von anderen Meditationsweisen.

Damit kann deutlich werden, dass ich auf diesem Weg alle vordergründigen und vielleicht selbstverständlichen Gegebenheiten zu überschreiten suche. Bildlos oder gegenstandslos heißt nun nicht, dass nur eine negative Beschreibung möglich wäre, sondern hier kommt auch ein wesentlicher Zug unserer jüdisch-christlichen Tradition zum Tragen, die, im Unterschied zum Raum, der Zeit besondere Beachtung schenkt.

Ich übe mich ein in die Gegenwart, nicht in der Bindung an einen gegenwärtigen Gegenstand, sondern an die gegenwärtige Zeit. So versuche ich der Gegenwart nicht als etwas Objektivem zu begegnen, sondern ihrem lebendigen Wesen. Kontemplation kann mich wahrnehmungsfähig werden lassen für die Zeit als strömendes Dasein, für die Wirklichkeit als lebendiges Wirk-Gewebe.

Auf dem Weg zur Wirklichkeit hilft mir auch wieder die schlichte Übung des einen: diesen einen Augenblick wahrnehmen, in dem ich wirklich bin. Alles andere, wozu ich mich allerdings meistens hingezogen fühle, ist entweder Vergangenheit, die ich nicht mehr bin, oder Zukunft, die ich noch nicht bin. Selten sind wir wirklich gegenwärtig und überlassen uns diesem einen Augenblick, dem, was da noch wirkt, hinter meiner vordergründigen Alltagswirklichkeit. Vertraue ich mich dem Augenblick an, kann das auch zum Weg werden, den vordergründigen Ablauf der Zeit zu überschreiten und den Punkt zu erkennen, wo Zeitloses sich schneidet mit Zeit, einzutreten in die Erfahrung erfüllter Gegenwart im lebendigen Wirken des „Ich bin da“.

So vollzieht sich auch hier im Üben ein Perspektivwechsel: Indem ich versuche mich vom „Objektiven“, von den Dingen, aber auch von „objektiven Wahrheiten“ zu lösen, werde ich fähig zur gelassenen Hingabe an das Da-Sein. Nicht mehr die Dinge bewegen sich und mich, sondern da ist Bewegung, Tanz, in den ich mit hineingenommen bin. Ich kann mich öffnen, jeden Augenblick den Atem zu spüren, der alles durchdringt.

Einübung in versöhntes Dasein

Der Weg, mich der Wirklichkeit zu öffnen, ist nicht einfach. Vieles begegnet mir, was ich eigentlich gar nicht wahrnehmen will. Vor allem, wenn mir im Schweigen alles andere als Ruhe widerfährt und sich gerade das meldet, was meiner Ruhe am meisten abträglich erscheint, meine Verletzungen und Wunden, meine dunklen Seiten, mein Schatten. Aber auch der Wirklichkeit um mich herum wage ich häufig nicht wach zu begegnen, ich schiebe sie lieber beiseite oder versuche gar sie zu verdrängen oder vor ihr zu flüchten.

Vordergründig scheint diese Tendenz auch noch von dem Bild unterstützt zu werden, das unsere Tradition für einen solchen Übungsweg kennt: „Die Augen schließen“ auf dem Weg nach innen. Freilich ist das nur die eine Seite des Übens, die Augen zu schließen. Die andere Seite, das andere Bild heisst: Die Ohren zu öffnen. Wenn ich dieses Sprachbild zu übersetzen versuche, heißt das für mich, nicht mit dem Sinn der Distanzierung, der „Überblick“ zulässt, der Wirklichkeit zu begegnen, sondern mit dem Sinn, den ich nicht verschließen kann, der mich teilhaben lässt, der die Wirklichkeit zu mir in Beziehung treten, zu mir „reden“ lässt.

In der Kontemplation kann ich erfahren, dass ich in Beziehung stehe zur ganzen Wirklichkeit und dass es möglich werden kann, mich in ihr einzufinden und schließlich auch mich mit ihr zu versöhnen.

Auch hier hilft mir die einfache Übung: Ein Wort, das ich mit meinem Atem verbinde – in der Tradition des Herzensgebetes z. B. der Jesus-Name – hilft mir achtsam gegenwärtig wahrzunehmen, was da „redet“, aber dabei nicht stehen zu bleiben, sondern den nächsten Schritt mit gleicher Achtsamkeit zu tun. So bin ich auf dem Weg, Beziehung wahrzunehmen, wo ich sonst Trennung erfahre, ein Bewusstsein für die Einheit dessen zu entwickeln, was mir sonst unversöhnliche Pole zu sein scheinen.

Auf dieser Ebene kann sich der vielleicht radikalste Perspektivwechsel ereignen: Ich sehe die Wirklichkeit nicht überschaubar in einzelne Bereiche zerteilt, sondern ich erfahre das Da-Sein als Mit- Sein mit allen Dimensionen der Wirklichkeit.

Um die Bilder von der Flöte und vom Atem noch einmal aufzugreifen: Atem und Resonanzraum gemeinsam lassen die Melodie des Lebens erklingen und gemeinsam mit anderen Melodien kann es zur Symphonie werden.

Die goldene Schnur

Immer wieder stehe ich am Anfang, immer wieder vor der Frage, wie die Wandlung in der Perspektive sich in mir ereignen kann, dass auch mein Bewusstsein sich diesem Erfahrungsraum öffnen kann. Manchmal kann es sich ereignen wie ein Blitz aus heiterem Himmel, dass ich in Berührung komme mit dem Herzen der Gegenwart. Meist herrscht aber eher die gleichförmige Zeit des Alltags, manchmal sind es auch Zeiten der Dürre und Dunkelheit. Auch wenn ich weiß, dass ich die Wandlung nicht machen, sie nie als Besitz haben kann, ist es doch gut, etwas „an der Hand zu haben“, was in mir die Hoffnung wach hält. Das ist zum einen ein Begleiter, eine Begleiterin, der oder die mit mir auf dem Weg ist, zum anderen ist es diese einfache Übung, mit deren Hilfe ich mich der Wandlung anvertrauen kann. Sie ist ein Hilfsmittel, aber ohne ein solches Hilfsmittel könnte ich vergessen, wohin ich auf dem Weg bin. Der englische Maler und Mystiker William Blake formuliert es so: "Ich gebe dir das Ende der goldenen Schnur in die Hand. Rolle sie zu einem Knäuel auf, und sie wird dich durch das himmlische Tor in der Mauer Jerusalems führen."

Johannes Sell,
geb. 1959, verheiratet, 2 Kinder, Studium der Evangelischen Theologie und Kirchenmusik, 10 Jahre Gemeindepfarramt, seit 1996 Pfarrer am Haus der Stille in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau.

 

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