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Dr. med. Silvia Gores Sein zu dürfen, so, wie ich von Gott her geträumt bin …
Die Ehefrau, Mutter, Ärztin und Kontemplationslehrerin Silvia Gores (Mannheim) berichtet aus ihrem spirituellen Leben. Silvia ist langjähriges Mitglied des WFdK.
Das Interview führte das Redaktionsmitglied Dr. Dr. Peter Macher.
PM: Welche Bedeutung hat Spiritualität in deinem Alltag?
SG: Beide sind untrennbar miteinander verbunden, Spiritualität wird sichtbar im Vollzug des Alltags, der Alltag ist Ausdruck der Spiritualität. Meine Spiritualität zu leben, bedeutet für mich immer wieder in allen Bereichen meines Lebens, die bewusste Miteinbeziehung der inneren Gewissheit, dass nicht ich lebe, sondern Christus in mir. Diese Bibelstelle und ein Zitat von Teilhard de Chardin begleiten mich seit vielen Jahren. Er sagte: Wir sind nicht menschliche Wesen, die eine göttliche Erfahrung machen, sondern göttliche Wesen, die eine menschliche Erfahrung machen. Sich selbst und alle Wesen zu begreifen als Träger, als Inkarnation einer göttlichen Wesenheit, verändert komplett die Einstellung zum Mitmenschen, zu allen Lebewesen, zum Leben und natürlich zu mir selbst. Diese Sicht durchdringt alle Bereiche meines Lebens. Spiritualität mit einzubeziehen, bedeutet für mich das Bemühen, das zu leben, das zu werden, was ich im Grunde längst bin; mir und dem Anderen die Erlaubnis, die Freiheit zu geben, die „Ganzheit“ zu leben, ganz Silvia sein zu dürfen, so, wie ich von Gott her geträumt bin, und nicht nur ein von mir erschaffenes Bild. In der Partnerschaft bin ich herausgefordert, meinen Mann in allen seinen Facetten so zu nehmen, wie er nun mal ist, und ihn nicht zurechtbiegen zu wollen, wie ich ihn gerne hätte. Das setzt aber voraus, dass ich an mir arbeite und mich selbst auch mit allen meinen Schatten akzeptieren lerne. „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ Es bedeutet, Persönlichkeitsanteile, die ich ablehne, nicht sehen möchte, die ich nicht lebendig sein lassen möchte, nicht wertend anzuschauen und zu integrieren. Das ist für mich heil werden, vollkommen werden und hat absolut nichts mit Perfektionismus zu tun, der ja in der Ausgrenzung besteht. Es ist die Herausforderung, immer wieder über gedanklichen Grenzen hinauszugehen, offen zu bleiben für die Möglichkeit des Andersseins. Das Scheitern ist da natürlich vorprogrammiert und ich komme mir oft vor wie Sisyphos (der einen Stein immer wieder den Berg hochrollen muss). Und doch ist gerade auch im Scheitern diese göttliche Kraft am Wirken, gerade dort! Gerade das Scheitern, das Dunkel in unserem Leben, bietet die Möglichkeit für Wachstum und Reife. Wenn alles glatt geht, dann lerne ich nichts dazu. Der ganze Mist ist letztlich Dünger für Wachstum und Reifung in unserem Leben. Diese Überzeugung wirkt natürlich auch in meine ärztliche Tätigkeit hinein. Meine therapeutische Arbeit sehe ich darin, dem Menschen, der mir da gegenübersitzt, die Wertschätzung entgegenzubringen, die er sich selbst verweigert, ihn herauszuholen aus der krankmachenden Spirale seiner Bilder und inneren Wertungen durch wertfreie Akzeptanz und damit Umdeutung seiner Erlebnisinhalte. Es ist immer wieder ein Erlebnis, wenn dann Wände einstürzen, Weite entsteht und eine größere Freiheit spürbar wird. Wenn die vorher abgespaltenen Persönlichkeitsanteile ihren Platz einnehmen, dann findet ein Stück Ganzwerdung, dann findet Heilung statt. Außerdem habe ich die Erfahrung gemacht, dass nicht nur die osteopathische Behandlung umso erfolgreicher ist, je weniger ich als Person (be)handle. Wenn meine Hände beginnen, selbstständig zu berühren, dann geschieht Meditation. Wenn ich ratlos werde, keine Behandlungsmöglichkeiten mehr sehe, dann kann es geschehen, dass sich ganz neue, oft verrückte Optionen auftun, wenn ich mich innerlich zurücklehne und auf eine Antwort lausche. Das sind dann Glücksmomente, das ist Gnade.
PM: Seit wann ist das so? Gab es ein besonderes Ereignis?
SG: Wenn ich mich recht erinnere, muss ich so 5 oder 6 Jahre alt gewesen sein, als ich den kleinen Klappspiegel meiner Mutter in die Hände bekam und mein Gesicht von allen Seiten darin betrachtete. Mit einem Mal bekam ich das Gefühl, nein, die Gewissheit, dass mich noch etwas Anderes aus dem Spiegel mit oder durch meine Augen ansah. Aber wer oder was war das nur? Dieses Gefühl war so intensiv, dass ich noch heute ein Gespür dafür habe. Seit ich denken kann, habe ich mich begleitet gefühlt. „Wenn ich mich doch nur schnell genug umdrehen könnte, dann würde ich den Engel bestimmt sehen“, dachte ich oft als Kind. Jahrzehnte später sagte ich: „Da ist noch jemand/etwas Anderes, der/das mit meinen Ohren hört, mit meinen Augen sieht, mit meinen Händen arbeitet!“ Diese Präsenz hat mich nie verlassen, sie war und ist in schlimmsten Zeiten mein Anker, ich habe sie nie in Frage gestellt, da sie zu meinem Leben einfach dazugehört. Natürlich hat sich das Verständnis im Laufe meines Lebens verändert. Aber dieses Gespür von einer Gemeinschaft, einer Communio, durchzieht mein ganzes Leben.
PM: Kann man – deiner Meinung nach – spirituelle Krisen oder Erfahrungen alleine meistern oder ist ein Lehrer erforderlich?
SG: Das ist ganz abhängig von der Person und der Art der Krise bzw. Erfahrung. Es gibt sicher Menschen, die den Weg meistern, ohne dass sie einer Gruppe angehören oder sich Hilfe holen. Das dürfte aber die Ausnahme sein. Betrachten wir den spirituellen Weg symbolisch als Besteigen eines Berges, dann erscheint es doch vernünftig, einen versierten Bergführer zu Rate zu ziehen, um rechtzeitig einen anderen Weg einschlagen und auftretende Schwierigkeiten gemeinsam meistern zu können. Deshalb würde ich immer dazu raten, sich einer Gruppe anzuschließen und sich einen Lehrer des Vertrauens zu suchen. Es ist auf jeden Fall schwieriger ohne Lehrer, aber nicht unmöglich. Dabei gilt es zu auch bedenken: „Und ihr sollt euch nicht lassen Lehrer nennen; denn einer ist euer Lehrer, Christus!“ (Mt. 23,10) Dieser Satz leitet(e) mich auf meinem Weg zu allen Gesprächen mit meinen „Lehrern“. Das ist nur scheinbar paradox. Durch alle Schwierigkeiten hindurch wusste ich mich immer geführt und dieser innere Lehrer wirkt ja in und durch alle anderen Menschen auch. Also auch in der Präsenz eines Lehrers. Wenn wir uns dafür öffnen, kann alles zum Lehrer werden: der Satz in einem Theaterstück genauso wie ein Buchtext, der Sonnenstrahl, der auf den Teich fällt, genauso wie der eigene Schatten an der Wand, das Gespräch mit dem Partner genauso wie der Austausch mit dem Lehrer. Deshalb sind wir auf unserem Weg nie wirklich ohne Lehrer.
PM: Wer war dein Lehrer in dieser Zeit?
SG: Zu Beginn Paul Shepherd, dann wurde ich Schülerin von Pater Willigis Jäger. Auch Doris Zölls hat mir sehr geholfen.
PM: Was würde Jesus sagen, wenn er heute die spirituelle „Szene“ betrachten würde?
SG: Er würde genauso reagieren wie zu seiner Zeit auch. Er würde seinen Tempel reinigen mit heiligem Zorn, er würde die anklagen, die sich zwischen die Menschen und Gott stellen, und er würde die entlarven, die nur der eigenen Selbstsucht und Machtgier anhaften. Er würde sich auf die Seite der Schwachen stellen und sie stärken und versuchen, die „Blinden“ sehend zu machen und die „Tauben“ hörend. Im Grunde hat sich doch nichts geändert …
PM: An was orientiert ihr euch in deiner Kontemplationsgruppe? An der Bibel, eigenen Erlebnissen, an mystischen Texten oder etwas anderem?
SG: Ich arbeite vor allem mit biblischen Texten und Symbolen, aber auch mit mystischen Texten anderer Religionen, um das Verbindende herauszuarbeiten. Oft fällt es leichter, Inhalte anzunehmen, wenn sie aus einer anderen Tradition kommen. Altbekannte Sätze bringen altbewährte Assoziationen zum Klingen, aber neue fremde Sätze vertiefen das eigene Verständnis. Es ist immer ein Zugewinn, wenn eine Bibeltextauslegung durch passende Texte anderer Religionen ergänzt wird. Wir Christen haben nicht die allein seligmachende Religion für uns gepachtet. Mir geht es immer um ein Weiten, Öffnen, über das Altbekannte Hinausgehen. Ich fürchte nichts so sehr, wie Schubladendenken oder Scheuklappen.
PM: Als Ärztin hast du vielleicht manchmal Patienten mit Grenzerfahrungen. Kannst du dies in deinen spirituellen Rahmen einordnen? Hilft es den Menschen?
SG: Inzwischen bin ich davon überzeugt, dass die Kontemplationslehrerin in mir mich zu einer besseren Ärztin macht und umgekehrt. Es geschieht häufig, dass meine Patienten sich auf Grenzerfahrungen einlassen können. Sie finden einen sicheren Raum vor und der wird genutzt. Schon beim ersten Gespräch erlebe ich oft, dass jemand ganz vorsichtig eine Testfrage stellt oder Andeutungen macht. Wenn ich mich darauf einlasse, erfahre ich dann auch Dinge, die noch nie jemandem zuvor erzählt wurden. Das ist meistens eine Befreiung und Erleichterung, weil die Erfahrung als etwas „Normales“ endlich ihren Platz findet. Die Therapie wird dann von Anfang an auf ganz andere Beine gestellt und neue Ansätze werden möglich. Wenn ich die Spiritualität eines Menschen nicht mit einbeziehe, dann schließe ich möglicherweise wichtige Aspekte seines Leidens aus und damit Therapieoptionen.
PM: Hast Du Angst vor dem Tod?
SG: Als kleines Kind habe ich eine Nahtoderfahrung machen dürfen. Nur die bittende Stimme meiner Mutter hat mich davon abgehalten, in das Licht zu gehen. So gerne wäre ich weitergegangen. Diesem Licht bin ich im Laufe meines Lebens noch mehrfach begegnet. Immer war es begleitet von überirdischer Ruhe, absolutem Frieden. Wovor sollte ich mich also fürchten? Für mich gibt es keinen Tod, nur das Leben. Das, was ist, ist ewig. Das Einzige, was ich fürchte, ist körperlicher Schmerz, denn ich bin gar nicht gut im Schmerzenertragen.
PM: Und zuletzt noch ein Blick in die Zukunft (Geht natürlich nicht). Wohin entwickelt sich die Menschheit? Was müsste sich ändern?
SG: Wenn es stimmt, dass wir Menschen dabei sind, unser Frontalhirn, das für die ethisch-moralischen Verhaltensmuster zuständig ist, weiterzuentwickeln, dann habe ich Hoffnung, dass damit eine andere Bewusstheit einhergehen wird. Damit würde das instinktgesteuerte egozentrierte Verhalten abgelöst, und eine Entwicklung hin zu einem sozialeren Miteinander würde begünstigt. Dass diese Entwicklung sich beschleunigt, das wäre die Antwort der Naturwissenschaftlerin in mir. Was sich ändern müsste? Die Spiritualität müsste einen anderen Stellenwert in unserem Leben erhalten. Die Tradition in Japan, dass junge Menschen 3 Monate in einem Kloster Meditation praktizieren, finde ich einen guten Ansatz. Mit Sorge nehme ich wahr, dass bei uns die Meditation zu einem Wellness-Event deklassiert wird. Die Methode wird benutzt, ohne dass die Inhalte berücksichtigt werden. Die Kirchen sehe ich in der Pflicht, Menschen auf ihrem Weg in die Erfahrung zu führen. Es bedarf mehr Menschen, die uns davon berichten, dass, wenn Jesus sagt: „Ich und der Vater sind eins“, diese Aussage nicht nur auf Jesus zutrifft, sondern auf jeden Menschen dieser Erde und damit auch auf uns selbst. Würde das in unserem Erfahrungsschatz gegenwärtig sein, wie könnten wir dann auf die Idee verfallen, ein Mensch sei wegen Geschlecht, Hautfarbe, Religion, sozialem Status, Krankheit oder, oder weniger wert? Wie viel anders sähe diese Welt aus, wenn sie von Menschen bevölkert wäre, die um ihren eigenen Wert und den des Anderen wissen? Das Gefühl der Getrenntheit fiele weg, wir würden uns als Teil eines gemeinsamen Ganzen begreifen. Wenn ich einen Wunsch frei hätte, dann würde ich mir genau das wünschen.
PM: Leib und Seele, Körper und Geist, was findet Ausdruck im Körper?
SG: Neben meinen Kontemplationskursen habe ich große Freude am Tanzen und habe deshalb die Ausbildung bei Sr. M. Monika Gessner in „Bibel-getanzt“ absolviert. Durch einfache Kreistänze und Körpergebete wird den tiefen Wahrheiten der biblischen Texte Ausdruck verliehen, und im Gegenzug führen diese Tänze in die Erfahrung dieser Wahrheiten hinein. Der Körper ist ein wunderbares Instrument, um Tiefenschichten und Facetten von Worten „begreifbar“ zu machen. Über 30 Jahre Erfahrung mit meinen Patienten haben mich Ehrfurcht und Respekt gelehrt vor dem Wissen des Körpers. Er erzählt mir die Wahrheit über mich selbst und die Welt. Tanz bietet die große Chance, aus dem Kopf heraus- und im Körper anzukommen. Nicht nur im Kopf zu beten, sondern ganz Gebet zu werden, nicht nur das Wort zu bedenken, sondern es im Körper Gestalt annehmen zu lassen, darum geht es. Körper, Geist und Seele sind eine Einheit und wirken aufeinander. Für mich ergänzen sich das stille Sitzen und die Bewegung gegenseitig, innere Prozesse finden ihren Ausdruck im Körper, Körpererfahrung „inspiriert“ das Denken. Deshalb fände ich es ideal, wenn Meditationskurse durch das Angebot von Tanz/Körpergebet dieser Tatsache Rechnung trügen.
Dr. Silvia Gores, geb. 1957, verheiratet, 2 Kinder, Ärztin für Allgemeinmedizin, Akupunktur, Kinesiologie, Craniosacraltherapie. Kontemplationslehrerin der Linie „Wolke des Nichtwissens Willigis Jäger“, Tanzanleiterin Bibel – getanzt, Mitglied und zur Zeit Sprecherin des Beirates des WFdK . E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!
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