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Fortbildung: „Wahrnehmung reiner Gegenwärtigkeit“ im September 2018 mit der Möglichkeit zur Einübung und zu vertiefender Reflexion.
Hildegard Fahsold schreibt in ihrem Erfahrungsbericht über Harald Hombergers Ausführungen zum Thema ´Trauma` und ihr Erleben der Aufstellungsarbeit. E.V.
„Das Aufstellungsgeschehen spiegelt menschliches Bewusstsein sowie Bewusstsein in allen Formen in ein stellvertretendes personales Gegenüber. Es ist eine Resonanzerfahrung, die Zeit – und Raumerleben aufhebt und sich in der Stille differenziert. In der Tiefe sind daher Aufstellungen Meditationen mit therapeutischen und anderen Nebenwirkungen“.
Harald Homberger schrieb diesen Text am Ende der Tagung auf das Flipchart. So wie er seine Arbeit versteht, so erfuhren wir sie als Teilnehmer (20) auch in der anschließenden Fortbildung. Unser inneres Feld war durch Haralds Vortrag zum Thema „Friedensarbeit im Innen und Außen“ und durch die Übungen, mit denen er uns während der Tagung mit der Aufstellungsarbeit bekannt gemacht hatte, schon vorgepflügt und erfahrungsbereit.
Als wir am Sonntagabend im Raum 100 unsere Plätze einnahmen, kam Willigis dazu und blieb als stiller Teilnehmer bei uns. Auch Beatrice Grimm und Fernand Braun waren als Teilnehmer vom Benediktushof dabei. Harald begrüßte Willigis mit den Worten: „Es ehrt uns, dass du da bist.“ Das hat mich tief berührt in einer Weise, die ich gar nicht benennen kann. Willigis in seiner stillen Präsenz, wie wir ihn seit Jahrzehnten kennen, erlebten wir nun in einem zunehmend gebrechlicher werdenden Körper. Das lebende Vorbild unseres Menschseins. Da-Sein, das berührt! Harald begann mit dem Singen eines Mantras, kraftvoll strömend aus der Tiefe seines Körpers. Ich saß direkt neben ihm und spürte das Vibrieren seiner Stimme im eigenen Körper. Harald sang in Sequenzen vor, wir alle übernahmen, sangen nach, folgten eine ganze Weile im Wechselgesang den anschwellenden und langsam wieder abschwellenden Tönen des Mantras, bis es sich sowohl im Raum als auch in unserer eigenen Körpertiefe verströmte. Dann wurden wir reihum gefragt, was jedem von uns wichtig ist und was aufgestellt werden soll. Harald sammelte alle Wünsche ein. Ja, wir wollten aufstellen, aber als Kontemplationslehrer wollen und brauchen wir auch das theoretische Wissen für die Begleitung anderer Menschen. Wir einigten uns auf das vorgeschlagene große Thema „Trauma“ in Theorie und Praxis. Vor dem Einstieg in die Theorie aber ging es zuallererst um uns selber, um unser inneres Erleben, unsere Empfindungen und Gefühle, um die Öffnung unseres eigenen Herzens.
Übungen Wir begannen mit einer Übung zu der Frage „Welchem Anteil in mir möchte ich mehr Aufmerksamkeit schenken?“ Zwei Personen A und B stehen sich gegenüber, spüren sich ein in den Abstand zwischen ihnen. A beginnt zu erzählen, B hört nur zu. Nach der vorgegebenen Zeit wird gewechselt. B erzählt. Dann folgt der Austausch zwischen beiden. Nur zuhören – kein Kommentar!
Die zweite Übung war eine Visualisierung zu der Frage „Was kam bisher zu kurz in meinem Leben?“ a) Stell dir vor, deine Eltern kommen aus einer Entfernung von 4-5 Metern auf dich zu. Sie lächeln dir zu, freuen sich über dich, strecken die Arme aus und umarmen dich. Was passiert in deinem Herzen? b) Stelle dir vor, deine Eltern kommen aus einer Entfernung von 4-5 Metern auf dich zu, schauen böse drein, beschimpfen dich und sind ärgerlich über dich. Was passiert in deinem Herzen?
Mit beiden Übungen hatte ich ein Problem, weil es Eltern für mich nicht (mehr) gab. Weil ich von meinem Vater nur als „vermisst in Stalingrad“ wusste und in den tränenüberfluteten Augen meiner Mutter jeder Glanz für alle Zeit erloschen war. Das Trauma des Abschieds von meinem Vater hatte uns beiden das Herz verschlossen – auch für einander.
So ließ ich diese Übung für sich selbst einfach stehen und begab mich diesmal wenig berührt, aber nachdenklich in die Nachtruhe. Der folgende Tag begann der Tagesstruktur des Hauses entsprechend mit Kontemplation, einer Lesung, dem gemeinsamen Frühstück im Schweigen und endete am Abend wieder mit Kontemplation in unserer Gruppe.
Vortrag zum Thema „Trauma“ Am Vormittag hörten wir den Vortrag von Harald zum Thema Trauma. „Trauma heißt Wunde“, so begann er. Menschen haben besondere Erfahrungen gemacht und brauchen eine besondere Behandlung. Die Kernerfahrungen sind: Verzweiflung, maximale emotionale Reaktion, Ausschüttung von Adrenalin pur und die sofortige Erstarrung. Alle Empfindungen sind eingefroren, „angebrannte Reflexe“ sind ein Überlebensmechanismus, der als solcher erkannt und verstanden sein will. Es gibt traumatische und gesunde Anteile. Der traumatisierte Mensch vermeidet möglichst die Situationen, die ihn an das Trauma erinnern. Die Vermeidung verweist ihrerseits aber auch auf den noch gesunden Überlebensanteil.
Gesunde Überlebensanteile finden sich in der Fähigkeit, • die Realität offen wahrzunehmen, • eine Bindung aufzubauen, • eigene Handlungen zu reflektieren und • im erwachsenen Umgang mit Sexualität, • im Willen zur Klarheit.
Weitere Überlebensanteile und Merkmale dafür sind: • das Bedürfnis nach Sicherheit, • die Kontrolle der traumatisierten Anteile, auch die Kontrolle anderer Menschen, • heftige Reaktionen auf andere Menschen, • das Verdrängen, Leugnen und Erinnerungen vermeiden, • nach Ersatzbefriedigungen suchen, • immer weitere Abspaltung.
Der Impuls dahinter ist, das Unbewusste im Innern loszuwerden, bevor es ins Bewusstsein kommt. Es gibt verschiedene Traumata: einmalige und mehrmalige. Traumatische Ereignisse sind Erdbeben, Krieg, Gewalt, Verfolgung, Verluste aller Art, Unfälle, Autounfälle, auch Altwerden (!), was mich erstaunt hat, aber Harald hat es in diesem Zusammenhang genannt. Sie alle hinterlassen unterschiedliche Spuren, die sich in posttraumatischen Verhaltensweisen wiederfinden: im Bindungsverhalten durch die unterbrochene Hinbewegung. Bindung wird ersehnt, gesucht und gleichzeitig vermieden, weil eine direkte Bindung zu einer beispielsweise übergeordneten oder schon gebundenen Person gar nicht möglich ist und ihr ausgewichen wird. Aber der Wunsch nach Kontrolle der ersehnten Person bleibt. In Verhaltensweisen wie Sparen zeigt sich das Bedürfnis nach Sicherheit, weil man nie wieder der Sorge um Geld ausgeliefert sein will. Man will kein Essen wegwerfen, weil man die Erfahrung des Hungerns gemacht hat. Auch die Wiederholung bestimmter Verhaltensweisen kann ein Merkmal für eine posttraumatische Störung sein. Man bleibt ständig in Bewegung, ist dauernd unterwegs, wechselt ständig den Wohnort und wiederholt damit unbewusst die Erfahrung, dass man einmal flüchten musste oder vertrieben wurde. Durch plötzliches Abschiednehmen weicht man dem Schmerz der Trennung aus, bestimmt den Moment selbst und hat ihn unter Kontrolle.
Sprachlosigkeit Traumatische Ereignisse haben oft familiäre Bedeutung über Generationen hinweg. Viele werden sich erinnern, dass es nach dem Krieg keine Sprache für das Erlebte gab. Man schwieg: Das Erlebte hatte einem die Sprache verschlagen. Harald berichtete von einem alten Mann, mit dem er sich in dessen Dorf unterhalten hatte, der lange sprach, aber auffallend lange Pausen und Leerstellen in seine Erzählung einbaute. Was einmal schwer war, wird ausgeblendet, sowohl individuell wie kollektiv. Es gibt auch keine Gefühle dazu. Aber diese sind nicht weg, sie schlummern in der Tiefe wie betäubt weiter. Es macht ungeheure Angst, nur ahnungsweise mit ihnen in Berührung zu kommen. Zustände wie Übererregung, Erschöpfung und Schlafstörungen, Depression, übermäßige Nervosität, Leugnung der Symptomatik führen zu weiterer Abspaltung ins Unbewusste und sind körperliche Anzeichen, für die man Abhilfe sucht. Werden diese Anzeichen dagegen als Hinweise ernst genommen, erkennt man, dass sie ein nur scheinbarer Ausweg sind, der letztlich immer tiefer ins Leiden führt. Aber der traumatisierte Mensch kann/will sich nicht erinnern. Es ist für ihn lebensbedrohlich, Verlassenheit, Ohnmacht, Verlust, Trennung noch einmal zu erleben. Er weiß nur: Ich will das nicht noch einmal durchmachen müssen. Liegt das Trauma weit zurück, in einer Lebensphase, an die jede bewusste Erinnerung fehlt, ist es durchaus möglich, rein sachlich und ohne emotionale Regung über das Erlebte zu berichten. Andere haben einem davon erzählt, aber für einen selbst ist es wie verschüttet. Der innere Druck, es an die Oberfläche zu bringen, zeigt sich in dem ambivalenten Wunsch nach Kontakt und dem immer wieder unternommenen Versuch, dieses unbewusste Etwas zur Sprache zu bringen. Man redet und redet und redet! Der aufmerksame Zuhörer wird merken, dass da (noch) keine Gefühle beteiligt sind, und wird behutsam sein. Er weiß um die fehlende Hingabe, das fehlende Vertrauen, die Angst vor dem Fühlen und Handeln.
Geführte Meditation Nach dem Umgang damit in der Aufstellungsarbeit gefragt, antwortete Harald: die Situation so aufstellen, wie sie im Moment ist. Er knüpfte an das Thema der Tagung „Frieden im Innen und Außen“ an und erinnerte an die Übung, die wir dort schon einmal gemacht hatten: „Eine Kraft, die größer ist als du selbst“. In einer geführten Meditation konnten wir unsere innere Bewegung sowohl auf die Frage als auch auf die Antwort wahrnehmen: Frage: Was habe ich dir angetan mit Gedanken, Worten, Handlungen? Antwort: Es tut mir leid. Frage: Was hast du mir angetan? Antwort: Ich vergebe dir.
Mit dieser Übung waren wir eingestimmt und vorbereitet auf das Geschehen in den Aufstellungen an den Nachmittagen. Da saßen wir nun alle im Stuhlkreis mit unseren jeweils eigenen Familiengeschichten. Hier, in dieser geschützten und vertrauten Atmosphäre, durften sie für alle sichtbar und miterlebbar werden.
Aufstellungsarbeit Harald fragte vor jeder Aufstellung die jeweilige Person nach dem Anliegen, der gegenwärtigen Lebenssituation, dem Beziehungserleben innerhalb der Familie. Mit der Suche nach der stellvertretenden Person begann die ganz persönliche Aufstellung. Die Auswahl traf allein die aufstellende Person nach ihrem inneren Bild. Jeder von uns war berührt, wenn die jeweils aufgestellten Personen von der Beziehungsdynamik innerhalb der Familienmitglieder ergriffen wurden und diese sichtbar und spürbar nachvollzogen. Fast immer veränderte sich das ursprüngliche Bild grundlegend. Es übte seine Wirkungsmacht nicht allein auf die aufstellende Person aus, auch wir anderen spürten alle die Intensität und Dichte dieses Geschehens, das sich da vor uns vollzog. Es gab ein Erkennen, ein werdendes Verstehen, wenn auch nicht immer eine Lösung. Dann, so habe ich Harald verstanden, heißt es abwarten, demütig sein und das Weitere dem Wirken der ‚Großen Seele’ anvertrauen. In der Tiefe sind wir mit allem verbunden. Für dieses tiefe innere Wissen stand Harald mit seinem ganzen Wesen. So habe ich und so haben wir ihn erlebt. Danke, Harald, für dein liebendes Begleiten, dein wissendes Verstehen!
Letzter Vormittag. Eine wichtige Frage für uns war nun: Wie erkenne ich als Lehrer(I)n ein Trauma? Sind wir im Gespräch mit einer uns gegenübersitzenden Person, geht es vor allem um die eigene innere Haltung. Bestenfalls weiß man aus eigener Erfahrung, wie es sich anfühlt, in einer traumatischen Situation zu sein. Einem traumatisierten Menschen kann sie ausweglos erscheinen. Die innere Blockade kann so wirksam sein wie ein Flashback (Rückkoppelung, Wiedererleben). Immer jedoch sollte sich unsere Aufmerksamkeit als LehrerIn auf die Wahrnehmung von Körper – Atem – Sprache richten: • Ist die Person in Kontakt mit mir? • Weicht der Blick aus? • Ist der Körper angespannt? • Kann der Atem fließen? • Was teilt die Person mir mit?
Ein primäres Gefühl ist sofort da. Sie weint, wie in der ursprünglichen Situation. Sekundäre Gefühle verlieren sich in Jammern, Klagen, Schuldzuweisungen, Wunsch nach Rache usw. Das oberste Gebot ist: Nichts bagatellisieren! Man kann direkte Fragen stellen wie: Wo spürst du gerade etwas im Körper? Gibt es im Körper auf meine Frage eine Resonanz? Wir bekamen eine Auflistung von gesammelten Fragen ausgehändigt, die weiterführen, wenn ein Gespräch ins Stocken gerät oder wir selbst nicht weiterwissen. Es sind Fragen aus dem SIBAM Konzept (Sensation, Impression, Behavior, Affect, Meaning). Unsere letzte gemeinsame Stunde blieb einer Abschlussrunde vorbehalten, in der unser Dank, unsere Hochachtung und Bewunderung für Harald und seine mit Liebe und Freude getane Arbeit zum Ausdruck kamen. Harald sang noch ein letztes Mal das Mantra vom Anfang, führte uns innerlich ins Offene und Weite und verabschiedete uns mit den Worten: „Da sind wir zu Hause!
Auf dem Heimweg, unterwegs durch die stillen, sonnendurchwärmten Dörfer des Taubertals und des Odenwalds, verspürte ich in mir ein leichtes Heimweh …
Hildegard Fahsold Kontemplationslehrerin (WdN), Enneagramm-Lehrerin
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