Würzburger Forum der Kontemplation e. V. (WFdK)

Frauen und Männer der Mystik

 

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Meditation und Kontemplation auf westlichem Boden
Teresa von Avila: "Licht, das keine Nacht kennt"

Autorin: Alexandra Tschom

„… komme, was da kommen mag, passiere, was passieren mag, sei die Mühe so groß, wie sie sein mag, lästere, wer da lästern mag, mag ich dort ankommen, mag ich unterwegs sterben oder nicht beherzt genug sein für die Mühen, die es auf dem Weg gibt, ja mag die Welt untergehen …“1

Gleichgültig, welchem kulturellen Kontext ein Meditierender angehört, Erfahrungsprozesse werden – sollte es sich um eine ernstzunehmende Praxis handeln – immer auf ähnliche Weise ablaufen. Die Deutung des Erlebten ist je nach Kontext hinsichtlich auftauchender Symbolismen natürlich völlig verschieden. Ein buddhistischer Mönch will sein Erleben anders verstanden wissen als ein Sufi-Derwisch, chinesisch-daoistische DenkerInnen anders als SchamanInnen des südamerikanischen Regenwaldes. So weit, so gut, was aber hat unser westlicher Boden in dieser Hinsicht zu bieten? Auf den ersten Blick vielleicht nicht viel. Spirituelle bzw. meditative Praxis scheint der christlichen Tradition einerseits abhanden gekommen, andererseits in ihrer Erscheinung für religionskritische Menschen wenig attraktiv zu sein. Trotzdem gibt es sie, die großen LehrerInnen meditativer und kontemplativer Praxis wie Meister Eckehardt, Hildegard von Bingen, Katharina von Siena, Teresa von Avila, Johannes vom Kreuz und andere mehr. Das Interesse an diesen Leuten hält sich allerdings außerhalb religiöser Zugehörigkeit zumeist in Grenzen, da es schwer zu sein scheint, meditatives Erfahrungserleben von religiösen Symbolismen und Zielen trennen zu können.

Ich denke aber, dass es ganz gut möglich ist, den speziellen religiösen Kontext einmal beiseite zu lassen – mit all der Wertschätzung, die diesem zugestanden werden muss –, um den Spuren „unserer“ großen KönnerInnen folgen zu können. Vergleiche sind in transkultureller Hinsicht immer problematisch und fruchten wenig. Wertfreie Betrachtung aber lohnt sich. Wobei ich betonen möchte, dass ich keiner Religionsgemeinschaft angehöre und als Philosophin, Qi Gong und daoistische Meditation Praktizierende tatsächlich „nur“ den Spuren kontemplativer Praxis folge. …

„… wenn ich jemanden gehabt hätte, der mich zum Fliegen gebracht hätte, dann hätte ich mich mehr darauf verlegt, dass diese Wünsche zur Tat geworden wären.“ 2

Aus der Sicht der (östlichen) Meditations-Praktikerin begann mich – abseits aller religiös-christlichen Inhalte – individuell er- und gelebte Meditationserfahrung westlicher Prägung zu interessieren. Dabei lernte ich die Werke der unglaublich liebenswerten, sympathischen Spanierin Teresa von Avila (1515-1582) kennen – eine der ganz, ganz großen Könnerinnen auf unserem Boden. Teresa hat uns auf über tausend Seiten ihr meditatives Erfahrungserleben hinterlassen. Dabei entsteht der berührende Eindruck einer starken, mutigen Frau, die sich – sollte es um den Weg der Seele gehen – von nichts und niemandem beirren lässt.

Liebevoll begleitet sie die Ihren, beharrt auf größtmöglichem Selbstverständnis innerer Freiheit und kann sicher auch heute noch eine Quelle des Wissens und der Inspiration sein. Die von ihr gegründeten Klöster widmeten sich der Einfachheit, der Schlichtheit, und widersetzten sich einem Leben äußerer Wichtigkeiten. Bis zu ihrem Tod 1582 gründet sie 14 Frauenklöster der unbeschuhten Karmelitinnen und mit Hilfe Johannes vom Kreuz, ihres „Assistenten“, auch einen männlichen Ordenszweig. Sie führt zwei Stunden stille Meditation ein, für Frauenklöster etwas Unerhörtes, da man Frauen zu solchen Tiefen als nicht befähigt ansah. Teresa gehört zu den wenigen philosophisch gebildeten Frauen ihrer Zeit, verfügt neben einem großen intellektuellen Wissen vor allem aber auch über enormes emotionales „Können“. Diese persönliche Größe und innere Reife bezieht sie, wie sie selber wiederholt betont, aus ihrer täglichen Meditationspraxis. Teresas Spuren zu folgen war für mich eine der wichtigsten „Fortbildungen“ auf meinem eigenen inneren Weg.

Ein Weg der Seele

Für Teresa ist Meditationspraxis ein Weg der Seele, der Selbsterkenntnis, ein ethischer und therapeutischer Prozess. Die Seele ist ihr persönliche und religiöse Heimat, ein Ort des Gestaltens, für den sie Bilder wie Garten, Lustgarten, innere Burg, Festung und dergleichen mehr wählt. Im mystischen Prozess beginnt von diesem inneren Ort aus, welcher Betreuung und Zuneigung erhalten muss, um zu wachsen, zu blühen und zu gedeihen, ein Prozess ganzheitlicher Persönlichkeitsentwicklung. Mit den schönsten Bildern versucht sie ihrem inneren Erleben gerecht zu werden. Die Seele ist quasi ein Ort mit ungeheurem Potenzial, der eine in ihrem Kern gefestigte Persönlichkeit auszubilden vermag. Einfühlsam beschreibt sie den Weg, den der Meditierende, falls er/sie die Praxis ernst nimmt, gehen wird. Sie kennt die große Befriedigung, die ungeheure Sehnsucht und den stillen Genuss, der diesem Weg erwächst. Sie warnt vor verkrampftem, ehrgeizigem und autoritätsgläubigem Verhalten. Teresa weiß um all die Ängste, Sorgen und Nöte, die dem Übenden begegnen können. Visionen, Auditionen und spektakuläre Erhebungserlebnisse, welche in christlicher Mystik oft als Inbegriff mystischer Sprache gedeutet werden, sind für Teresa wichtige, jedoch vorübergehende Begleiterscheinungen, über die sie jenes Wissen erfährt, welches sich später völlig in die Seele integriert und auf ruhige, normale und alltägliche Weise zugänglich wird.

Meditation und Kontemplation / Verstehen im Nicht-Verstehen

„Schon gehen die Blüten auf, schon beginnen sie zu duften.3 Oft war ich auf diese Weise wie außer Sinnen und berauscht von dieser Liebe…“4

Meditation bedeutet zuallererst Einübung, gefühlshafte Aufmerksamkeit, heißt, sich mittels gefühlshafter Vorstellung der Seele zuzuwenden. Teresa weiß, wie sehr es verlorene Mühe bedeuten würde, störende Gedanken bekämpfen zu wollen, denn „[dies] wäre … alles mühsame Arbeit, bei der man nicht mehr gewinnt, sondern im Gegenteil noch verliert, was der Herr einem ohne eigenes Zutun gibt“5. Man sollte über den Verstand vielmehr lachen und ihn „wie einen Verrückten gewähren lassen“6. Gewalt und Anstrengung führen nicht zum Ziel, zerstören eher, denn wäre man vorher innerlich angerührt, würde man durch Anstrengung und Gewalt nur „erkalten“7. Es ist nicht von Vorteil – oder sogar nutzlos – sogleich zu hinterfragen, was denn passiere und wie genau etwas vorgeht, denn die Seele „verstehe dann schon“. Meditation ist der Beginn, der Eingang in ihre tägliche Meditationspraxis, der man sich aus ganzem Herzen zuwenden sollte.

Meditation bedeutet willentlich gewählten Einstieg, ein Sich-Versenken in innere Betrachtung, ein Werk, das man selber fördern und pflegen kann. Kontemplation hingegen beschreibt sie als Aufgabe von selbstgesteuertem bzw. rational kontrolliertem Geschehen, welche sich in verschiedenen Phänomenen äußern kann. „Etwas“, und das ist wohl einer der interessantesten Aspekte teresianischer Mystik, beginnt sich von selber im Inneren zu entwickeln und auf stark spürbare Weise zu entfalten. Sie spricht ein Geschehen-Lassen an, das sich jeglicher Machbarkeit entzieht. All diese Dinge könne man „nicht einmal begreifen, geschweige denn aussprechen!“8. Sie nennt dies auch „Verstehen im Nichtverstehen“.9 Mystische Erfahrungen entziehen sich einem Kontrollieren-Wollen. Manchmal passiert in kurzer Zeit Wesentliches, manchmal dauert es sehr viel länger, bis sich diesbezügliche Erfahrungen einstellen. In diesem Selbstprozess ist ein wichtiger Lernfaktor, sich nicht auf Sicherheiten einzurichten, sondern immer offen und wach zu bleiben. Die Praktizierenden sollten sich große Hingabe zu Eigen machen, denn obwohl es Erfahrungswerte gibt, verläuft der Prozess bei jedem auf die für ihn individuell richtige Weise.

Gefühle der Erhebung, des Glücks, der Wonne und auch der ganzheitlichen Durchringung werden erfahrbar. Dabei handelt es sich nicht um fiktive Gefühle, sondern um ein Erleben wahrhaftiger Zustände. Interessanterweise sind die recht außergewöhnlichen bzw. oft stark emotional erlebten Kontemplationszustände nur Prozessphänomene, die einen Übergang in Form einer durch kontemplative Zustände hervorgerufenen Denkveränderung / Empfindungsveränderung bedeuten. Da es sich zumeist um einen ganzheitlichen Erlebensprozess handelt, kann es sich bei diesen Phänomenen um Auditionen, Visionen, körperliche Wahrnehmungen (Hitze, Kälte, intensive Wohlgefühle, körperlich erlebte Schmerzen, u. a.) und um außerkörperliche Wahrnehmungen (als außerkörperlich erlebte Wahrnehmungen) handeln. Es kann zu „urplötzliche[m] Entrücktwerden“10 kommen. Sie empfindet, als ob sich der Leib vom Körper löse und sie nicht mehr weiß, ob sie „im Leib“11 ist. Es ist ihr, als trenne sich die Seele vom Leib, als würde der Geist aus dem Leib heraustreten und sie „in einer anderen Region“12 sein. Schließlich kommt es zu einer Integration jenes Wissens, das in kontemplativen Zuständen gewonnen wurde. Es handelt sich um eine Stabilisation, um eine Integration, die innere und äußere Sicherheit gibt. Außerordentliche Phänomene treten weniger bzw. nicht mehr auf. Sie hat sich ihr mystisches Vermögen angeeignet, eine Art „Können“ hat sich eingestellt, um das sie sehr genau Bescheid weiß.

Teresas „Unterscheidungskatalog“ wahrhaftiger und eingebildeter kontemplativer Phänomene

„Dabei verstehe ich sehr wohl, dass es für euch wichtig ist, euch, so gut ich es kann, einige Dinge des inneren Leben zu erklären…“13

Teresa weiß, wie sehr erste intensive kontemplative Erfahrungen den Praktizierenden verunsichern können. Sie kennt die Gefahr der Einbildung, der Über- oder Unterschätzung erlebten Geschehens. So bemüht sie sich auf unterschiedlichste Art und Weise, ihren SchülerInnen Anregung und Anweisung zu Meditation und Kontemplation zu geben. Sie weiß, wie wichtig es ist, einige Anhaltspunkte an der Hand zu haben, um zwischen wahren und falschen (eingebildeten) Phänomenen unterscheiden zu können.

Innerhalb dieser „außerordentlichen“ Phänomene ist eine Unterscheidung zwischen pathologischen (eingebildeten, übersteigerten) Symptomen und ernstzunehmenden, durch kontemplative Praxis hervorgerufenen Prozesswahrnehmungen / Prozessphänomenen möglich und notwendig. Da es ihr so wichtig erschien, ihresgleichen gut und sicher im Prozess der Kontemplation zu begleiten, entstand ein richtiger „Unterscheidungskatalog“. Für alle Praktizierenden meditativer Praxisformen kann ein Blick auf Teresas „Katalog“ durchaus hilfreich sein. Gelingt es uns, ihren religiösen Symbolismus zu abstrahieren, so erfährt der Übende hilfreiche Anhaltspunkte für wahrhaftige Prozessphänomene.

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1. Grundsätzliche Merkmale aller wahrhaftigen kontemplativen Phänomene:

Wahrhaftige Phänomene sind zufällig, können nicht ausgelöst und nicht gemacht werden.

Der Verstand und die Seele können dabei so verwirrt sein, so „durcheinander“14, dass sie „es nicht fertig brächten, einen vernünftigen Satz zusammenzusetzen …“15. Auch wenn es Krisen, Ängste und Zeiten der großen Trockenheit16 gebe, stellen sich jedoch – (auch) als Auswirkung der kontemplativen Phänomene – Wohlgefühle ein. Sie spricht davon, dass diese Gefühle, wenn es sich um wahrhaftige Auswirkungen der Meditation und Kontemplation handelt, deutlich zu erkennen sind. Diese „Gnadengaben“ sind für sie eindeutige Kenntlichmachung der Wahrhaftigkeit. 17 Es sind Gefühle zarter Erholung, stark, eindringlich, beseligend und ruhig;18 sie vertreiben Furcht und Angst.19

Als Metaphern dafür führt sie an: „Feuer, das schon brennt“20, es ist, als ob man „plötzlich hineingeworfen [würde], um zu verbrennen“21, eine (plötzliche) „Entflammung“ 22, „… ein starker Duft … der sich durch alle Sinne mitteilte…“23, wie ein „Schlag“24, wie ein „feuriger Pfeil“25, „… ein heftige[s] Auflodern des Feuers, mittels des Wassers …“26. Zurück aber bleiben große Ruhe und Trost, eine „andächtige Sammlung“27. Man sieht nicht mit den Augen des Leibes, sondern mit den Augen der Seele28 ein Licht, eine „wohltuende Weiße“29, Helligkeit, ein ganz anderes Licht „als [das] von hier“30, von sich aus leuchtend, ein „Licht, das keine Nacht kennt“31.

Es stellt sich eine Art inneres Wissen ein, welches Erkenntnis gibt „klarer als die Sonne“32. Es bleibt eine Gewissheit zurück – eine ganz intensive Gewissheit.33 Ein inneres Verständnis, auch wenn man sich oft nicht auszudrücken vermag, so weiß man doch.34

Ein Wissen, welches in das tiefste Innere der Seele dringt, nicht in Bild oder Wort, die braucht es nicht, denn man verstehe „große Wahrheiten und Geheimnisse“ 35 in einer Art Vision oder Sprache, die „so vergeistigt [ist], dass es nach meinem Dafürhalten in den Seelenvermögen oder Sinnen keinerlei Lärm gibt …“36.

2. Eingebildete „Gefühle“, die vom Weg abhalten und die Entwicklung wahrer Phänomene verhindern

Eingebildet – und damit nicht wahrhaftig – sind Gefühle falscher Demut. Das bedeutet, sich nicht würdig oder für zu klein und gering für kontemplative Erfahrungen zu fühlen.37 Sie nennt dies auch Kleinmut. 38 Auch übertriebene Ängste vor kontemplativen Phänomenen entspringen der Einbildung.39 Der Prozess der Selbsterkenntnis soll zu wahrhafter Demut führen und nicht „kriecherisch und verzagt“ 40 machen. Falsche Bescheidenheit bedeutet, dass man darunter leidet, wenn andere Gutes von einem sagen, oder wenn man nicht will, dass das eigene Wissen bekannt und / oder von anderen bemerkt wird.41 Falsche Demut bedeutet auch übertriebenes Achten auf die Versäumnisse und Verstöße / Fehler der anderen. 42 Falsche Eingebungen sind Empfindungen großer Unruhe über die Schwere vergangener Sünden sowie Verwirrung und seelische Bedrängnis.43 Feigheit ist gleichfalls nicht förderlich.44 Übertriebenes Verlangen nach Buße und asketischer Zwang, sich selbst Gewalt antun wollen, sich „abplagen“45 sowie verderblicher Ehrgeiz zeugen von unrichtigen Eingebungen.46 Man solle nicht zulassen, dass Seele und Gemüt eng werden47, denn er (Teresas Christus) „achtet nicht auf so viele Kleinigkeiten, wie ihr meint“48.

3. Eingebildete, „selbst gemachte“ und irrtümlicherweise als kontemplativ empfundene Phänomene

„Ich meine auch, dass eine Seele, wenn sie Übung hat und auf der Hut ist, das sehr deutlich merken wird. Denn abgesehen von manch anderen Dingen, an denen man sieht, was ich schon gesagt habe, zeitigt es keinerlei Wirkung noch lässt die Seele es zu … sondern erkennt vielmehr, dass es nur ein Gefasel des Verstandes ist, fast so, wie wenn man eine Person nicht weiter beachtet, weil ihr wisst, dass sie wahnsinnig ist.“49

Wenn Kontemplationserlebnisse vom Verstand gemacht sind, sind sie „wie etwas Dumpfes, Zusammengereimtes, und nicht so deutlich wie jene anderen“50. Falsche Phänomene bringen Unruhe, hinterlassen keine Festigung in der Wahrheit, 51 hinterlassen Trockenheit, ebenso Unruhe, von der man nicht verstehen kann, woher sie kommt. Es kommt zu Niedergeschlagenheit.52 Diese Erfahrungen sind lustlos, unstet und ohne jede Wirkung.53

Nach eingebildeten Erfahrungen bleibt „keinerlei wohltuende Empfindung zurück, sondern eine Art Entsetzen und starker Widerwille“54.

Nicht förderlich und keineswegs kontemplativ sind Erlebnisse wie „Rührseligkeiten der Seele aus Tränen oder sonstigen kleinlichen Gefühlen, deren Blütenwinzlinge schon beim ersten Lüftlein von Verfolgung verloren gehen“55, sowie fromme Anwandlungen, die sich oft in Gefühlsausbrüchen zeigen, ganz so wie bei Kindern, die einen Weinkrampf haben. Diese Anwandlungen sollte man mittels des Verstandes sanft beruhigen und unterbinden.56

Gefährlich ist auch unbedachtes und unreflektiertes Vorgehen. Eine „Schwäche im Kopf“57 und „krankhafte Einbildung“58 ist, „dass sie meinen, sie würden alles, was sie glauben, auch sehen; das ist ziemlich gefährlich“59.

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Meditatives Üben als Selbsterkenntnis – eine Ethik des Bewusstseins? Kulturübergreifende Gedanken …

Ist der Prozess meditativer Praxis und innerer Übung ein ethischer Weg? Die Daoisten schreiben von Selbstkultivierung, von Harmonisierung der Persönlichkeit und von Relativierung der Lebenswichtigkeiten. Alte östliche Praxis begreift den Menschen als Naturlebewesen und die Entfaltung der Persönlichkeit – so könnte man sagen – als Naturnotwendigkeit. Üben heißt somit, sich seiner eigenen Natur zuzuwenden, all dem, was man eben „ist“ – Körper, Gefühlen, Gedanken, Emotionen … entspannend und heilsam für Körper und Geist. Diese alte Praxis kann Ausgangspunkt zur Entdeckung gänzlich neuer, spannender Facetten und Möglichkeiten der eigenen Persönlichkeit sein. Dabei geht es immer um er- und gelebte Erfahrung. Erfahrung dessen, wer Ich-bin im Sinne dieses QI, im Sinne meines / unseren Natur-Seins, unseren So-Seins als Naturwesen.

Teresa schreibt, dass es sich um eine sehr intensive, aber nüchterne Weise der Selbsterkenntnis handelt. Je weiter man ins Innere eindringt, desto „ehrlicher“ wird der Blick auf sich selbst und damit auf all die Dinge, die man bisher für wichtig hielt. Nach und nach, so Teresa, ist der Praktizierende fähig, das eigene Leben – und später auch das Leben der Mitmenschen – mit allen Mängeln und Verstrickungen sehr nüchtern betrachten zu können. Dieser innere Erkenntnisprozess sollte aber nicht mit Strenge, sondern mit Sanftheit und Milde geschehen. Die Seele braucht Freiraum für den Reifungsprozess. Man sollte sie in ihrer Entwicklung weder einengen noch bedrängen. Tugenden entwickeln sich gleichsam aus dem Inneren heraus durch diesen intensiven Prozess der Selbstauseinandersetzung, folgen auf echte und wahrhaftige Selbsterkenntnis. Die regelmäßige Praxis der Meditationsübung ist für sie sicheres Mittel zum persönlichen Wachstum.

Ob östlich oder westlich – kontemplative „Techniken“ sind Aspekte menschlicher Bewusstseinsübung, wie sie seit unendlich langer Zeit rund um die Welt praktiziert werden. Man könnte Kontemplation als eine dem Denken, dem Mensch-Sein innewohnende Fähigkeit bezeichnen, welche durch Ausbildung / Übung geschult werden kann.

Östliche und westliche Erfahrungskontexte verweisen nicht auf ein passives Sich-Verlieren, sondern auf Achtsamkeit, auf emotional-gefühlshafte Wachheit, verbunden mit der Fähigkeit zur Selbstkritik. Diese Interaktion braucht den ganzen Menschen, die völlige Aufmerksamkeit und ein waches Mit-dabei-Sein. Im gesamten Prozess ist das Individuum als ein handelndes gefordert. Für diese Form der Aktivität braucht es allerdings ein Zulassen und Einlassen und ein aktives Warten. Es erfordert vom Übenden die Aufrechterhaltung subjektiven Wollens, nicht aber die Absicht, verstandesmäßig kontrollieren zu wollen.

Zu den „Ergebnissen“ dieser Erfahrungsprozesse zählen wachsende Beziehungsfähigkeit sowie vermehrte Fähigkeit zu gemeinschaftlichem, wertschätzendem Umgang, wachsende Kritikfähigkeit, stärkeres politisches Bewusstsein und mutigeres, selbstbestimmtes Auftreten.60 Emotionalität und Lebendigkeit im Sinne eines mutigen In-der-Welt- Seins bleiben nicht nur erhalten, sondern können auch authentischer gelebt werden.

Was wäre … unser Alltag ohne Meditation? Er gliche einer abgeschnittenen Blume, die auch in bereitgestelltem Wasser nur noch eine kurze Lebensdauer hat. Was wäre die Zuneigung zwischen Mann und Frau … was wäre Freundschaft ohne Meditation? […] Was wäre Wissenschaft ohne Meditation? Ein bloß rationales Denken, abgeschnitten von der Tiefe des Bewusstseins, unfähig, den Menschen in eine größere Tiefe und Reife zu führen.61

Kontemplative Praxis bewirkt Entschleunigung im Denken und bedingt somit oft klarere und bewusstere Entscheidungen sowie Gelassenheit in Lösungsprozessen. Meditatives Üben schafft Abstand, schafft Raum zu lebensweltlichen Bezügen, jedoch niemals Isolation und Distanz zu Welt und Wirklichkeiten. All dies setzt natürlich eine reflexive Ebene voraus. Gibt man der eigenen Persönlichkeit dabei viel Freiraum, so können Veränderungsprozesse im besten Sinne eines Sich-selber-Sein-Lassens unterstützt werden.

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Anmerkungen
1 Dobhan, Ulrich/Peeters, Elisabeth (Hgg.): Teresa von Avila. Wege der Vollkommenheit. Vollständige Neuübertragung, gesammelte Werke Band 2, Freiburg: Herder 2003, 35, 2. (in der Lit. üblicherweise abgekürzt CE).
2 Ebenda 13, 6.
3 CE 16, 3.
4 Ebenda 16, 2.
5 CE 17,8.
6 Ebenda 53, 6. Vgl. auch V 30,16; Vgl. M IV. 3, 6.
7 CE 56,3.
8 Ulrich Dobhan, Elisabeth Peeters (Hgg.): Teresa von Avila. Das Buch meines Lebens, vollständige Neuübertragung, gesammelte Werke Band 1, Freiburg 2001, 18,4 (in der Lit. üblicherweise abgekürzt V).
9 Ebenda.
10 Dobhan, Ulrich/Peeters, Elisabeth (Hgg.): Teresa von Avila. Wohnungen der inneren Burg. Vollständige Neuübertragung, gesammelte Werke Band 4, Freiburg: Herder 2005, VI. 5, 7. (in der Lit. üblicherweise abgekürzt M)
11 Ebenda VI. 5, 8.
12 Ebenda VI. 5, 7.
13 M I. 2, 7.
14 Ebenda, 25, 4.
15 Ebenda.
16 Für Teresa bedeutet Trockenheit immer einen Zustand, in dem wenig bis nichts geschieht, ein Symbolismus der sich auf die klimatischen Verhältnisse in Spanien bezieht.
17 Vgl. ebenda 14, 5; 15, 4.
18 Vgl. ebenda 25, 11.
19 Vgl. ebenda 15, 14; 25, 20.
20 V 29, 10.
21 Ebenda; vgl. ebenda 29, 9; M VI. 11, 8.
22 M VI. 2, 8.
23 Ebenda.
24 Ebenda VI. 11, 2.
25 Ebenda.
26 CE 31,1.
27 M VI. 3, 6.
28 Ebenda, 28, 3.4; M IV. 3, 6
29 V 28, 5.
30 Ebenda.
31 Ebenda; vgl. dazu auch ebenda 38, 2.
32 V 27, 3; vgl. dazu auch ebenda, 27, 2.
33 Vgl. M V. 1, 10.11.
34 Vgl. ebenda, VI. 4, 5.
35 V 27, 6; vgl. dazu auch M VI. 10, 2.
36 V 27, 7.
37 Vgl. ebenda, 31, 12 ; 31, 17.
38 Vgl. ebenda, 31,17.
39 Vgl. ebenda, 8, 7; 7,1.
40 M I. 2, 11.
41 Vgl. V 31, 12; 31, 15.
42 Vgl. M I. 2, 16.
43 Vgl. CE 67, 5.
44 Vgl. V 31, 11.
45 Ebenda, 31, 18.
46 Vgl. ebenda; sowie 18, 23; M I. 2, 16.
47 Vgl. ebenda.
48 CE 72,1.
49 V 25, 6; V 13, 8; 18, 9; 18, 10 ; 25, 8; 25, 9: Sie weist darauf hin, dass sich eine erfahrene Seele nicht so leicht täuschen lässt.
50 Ebenda, 25, 3.
51 Vgl. ebenda, 15, 10.
52 Vgl. ebenda; V 30, 9.
53 Vgl. ebenda, 25,13.
54 V 25, 11.
55 Ebenda.
56 Vgl. ebenda, 29, 9 ; M VI. 6, 7.
57 Ebenda, IV. 3,14.
58 Ebenda.
59 Ebenda, IV. 3, 14; vgl. dazu auch ebenda, VI. 2, 7.
60 Siehe dazu auch: Ingeborg Nordmann, Antje Schupp, Mechthild Jansen (Hgg.): Weibliche Spiritualität und politische Praxis, Rüsselsheim 2004, 9ff.
61 Waltraud Herbstrith: Verweilen vor Gott. Mit Teresa von Avila, Johannes vom Kreuz und Edith Stein, Mainz, 3. Auflage 1993, 19 f.

Alexandra Tschom,
mag. phil., geb. 1962, lebt in Linz und betreibt ein Ausbildungs- und Beratungsinstitut für Qi Gong und Praktische Philosophie.
Veröffentlichungen: Die Kunst des Qi Gong und Tai Chi – Alte Wege neu beschreiten; Die Kunst der Arbeit mit Qi. Therapeutisches Qi Gong.
Internet: Link

 

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