Würzburger Forum der Kontemplation e. V. (WFdK)

Fortbildung - Werkstattberichte

 

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Das Mahabharata als Initiationsweg zur Bhagavad Gita

Fortbildungskurs der WSdK: 24.01. – 27.01.2008, Benediktushof, Holzkirchen Kursleiterin: Barbara Schenkbier

Ein Werkstattbericht

Autoren: Hildegard Seng und Maria Kolek Braun

Zwölf KontemplationlehrerInnen trafen sich zur Januar-Fortbildung unter dem Aspekt west-östliche Weisheit. Sie wurde von Barbara Schenkbier geleitet. Das Thema: Das Mahabharata als Initiationsweg zur Bhagavad Gita.

Einleitung in das populärste indische Heldenepos

Das Mahabharata (Bharata = Indien, maha = groß) ist neben dem Ramayana das umfangreichste und populärste Heldenepos Indiens und begründet den Ursprung des Urstammes der Arier. Beide Epen kommentieren die vier alten Veden, die nach hinduistischer Vorstellung die göttliche Offenbarung enthalten. Bei fast allen Hindus stehen sie in hohem Ansehen und haben den Rang von Lehrbüchern.

Die bekannte Schrift Bhagavad Gita mit ihrem Helden Arjuna bildet einen Teil des Mahabharata.

Entstanden ist das Mahabharata zwischen dem 4. Jh. v. Chr. und dem 4. Jh. n. Chr., immer wieder neu wurden Geschichten, Legenden und Mythen eingeschoben. Noch heute wird bei feierlichen religiösen Anlässen aus dem Mahabharata vorgetragen.

Sein großes Thema ist der Kampf des Guten, Weisen, Reinen gegen das Böse, Neid, Missgunst, der Triumph der Tugend und die Überwindung der Laster. Oberflächlich werden sehr, sehr menschliche Geschichten und Verwicklungen erzählt, die oft zum Schmunzeln verführen, weil man das Ende vorausahnt. Erzählt wird der Kampf zwischen den beiden verwandten Bharata-Familien, den „bösen“ Kauravas und den „tugendhaften“ Pandu-Söhnen, im Folgenden auch Pandavas genannt, die um das Königreich streiten, das der blind geborene König Dhritarastra unter ihnen aufgeteilt hat.

Es heißt, bis auf die Bibel habe kein Werk einen größeren Einfluss auf die moralische Erziehung eines Volkes ausgeübt und tue dies immer noch. Der Mythos erzählt auf einer tieferen Ebene von den seelischen und ethischen Reifungsschritten des Menschen. Wenn man ihn als mystische Schrift liest und in die Gegenwart transponiert, kann er seelische und psychische Erfahrungen auch von uns heutigen Menschen in Mitteleuropa widerspiegeln, deuten und uns damit bestärken oder herausfordern. Löst man den Mythos aus Raum und Zeit, findet sich sein Wahrheitsgehalt auf ähnliche Weise in allen Traditionen und Religionen.

Dem nachzugehen war unsere Aufgabe in diesen Tagen – kein ganz anspruchsloses Unterfangen!

Beim Lesen des Mahabharata verwirrt und erschlägt zunächst der Stammbaum.

Die Referentin ersparte ihn uns und lieferte stattdessen eine Zusammenfassung der wichtigsten Personen, Verbindungen und Ereignisse.

Das Dharma und seine mythischen Repräsentanten

Dharma ist ein umfassender Begriff für das, was unser ganz persönliches Leben ausmacht. Es ist das Lebensgesetz eines jeden Menschen. Folgende Personen agieren im Mahabharata als Repräsentanten des Dharma: Pandu, ein König; er hat zwei Frauen, Kunti und Madri. Kunti wird durch ein Zauber-Mantra schwanger und gebiert drei Söhne göttlicher Herkunft: Yudhisthira, Bhima und Arjuna, den Helden der Bhagavad Gita. Seine zweite Frau Madri leiht sich dieses Zauber-Mantra und ruft, schlau, wie sie ist, den Gott der Zwillinge an, um gleich zwei Söhne zu gebären: Sahadeva und Nakula.

Die Qualitäten dieser fünf tugendhaften Söhne des Pandu finden sich in jedem Menschen:

  1. Yudhisthira steht für das Leichte, Spielerische im Umgang mit dem Leben. Sein leichtfertiges Würfelspiel ist im weiteren Verlauf der Handlung Auslöser für den endgültigen Kampf der Kauravas gegen die Pandavas (= Pandu-Söhne).
  2. Bhima steht für innere und äußere Stärke.
  3. Arjuna ist der perfekte Krieger. Er steht für die Kraft der Unterscheidung von Gut und Böse und repräsentiert den Weg von avidya (= Unwissenheit) zu viveka (= Unterscheidungsvermögen). Sein Gespräch mit Krishna im Kampf gegen das Brudergeschlecht ist der Inhalt der Bhagavad Gita.
  4. Sahadeva steht für die Schönheit des Lebens im Einklang mit dem Dharma.
  5. Nakula verkörpert das Heilende.

Alle fünf Brüder werden später Dhraupari, die für Liebe und Hingabe steht, heiraten, und mit ihr nach den Gesetzen in Eintracht und Frieden leben. Als Königssöhne gehören sie der zweiten Klasse der Hindu-Gesellschaft, den Ksatriya, an. Zu ihr gehören Krieger, Fürsten und Könige. Ihre Aufgabe ist es, für den Schutz der Gemeinschaft und den Erhalt der Tugenden zu kämpfen. Ihr Symbol ist „rajas“, die Aktivität des Bemühens. Es sei hier schon vorweggenommen, dass sie nach zwölf Jahren Verbannung im dreizehnten Jahr unerkannt bleiben mussten. Erst in dieser Zeit konnten sie es sich leisten, das zu leben, was sie schon immer leben wollten (z. B. Koch, Tänzer, Gärtner, Dienerin …).

Wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten. Die Kauravas, das sind Dhurodama und weitere 99 Brüder, hatten eine traumatische Geburt. Bei ihrer Entstehung hieß es schon, dass von ihnen nichts Gutes kommen könne. So stellt sich die Frage: Können sie etwas für ihre Geburt? Sie bilden die Gegenkräfte zu den fünf tugendhaften Pandu-Söhnen. Die beiden Parteien werden sich auf dem Schlachtfeld gegenüberstehen.

Die helfenden Götter – besonders Krishna

In Erfüllung seines Dharma ist der Mensch jedoch nicht allein gelassen. Er ist umgeben von helfenden Kräften. Im indischen Mythos sind das helfende Götter – hier besonders Krishna –, Asketen und Weise. Auch Menschen stehen helfend zur Seite: Drona, ein berühmter Lehrer und Brahmanenkrieger, der das Geheimnis der „Feuerwaffe“ kennt; und Bhisma, der freiwillig auf den Thron verzichtet und damit erst die segensreiche Herrschaft der Pandavas ermöglicht.

Krishna werden acht Eigenschaften zugeschrieben, die als Grundqualitäten in den fünf Pandu-Söhnen – in jedem Menschen? – leben, nämlich:

  1. Kenntnis der Veden
  2. Tapferkeit
  3. Kraft
  4. Freisinn
  5. Verstandeskraft
  6. Bescheidenheit
  7. Schönheit
  8. Festigkeit (Treue)
Kurukshetra, Symbol für das Schlachtfeld des Lebens

An diese Kräfte kann sich jeder Mensch anbinden, wie die Pandu-Söhne das tun.

Kurukshetra, das Schlachtfeld der verfeindeten Brüder, ist Symbol für das Schlachtfeld des Lebens. Die Pandu-Söhne bekommen im 13. Jahr ihrer Vertreibung aus ihrem eigenen Reich ein anderes Königreich angeboten. Nähmen sie dies an, würde das bedeuten, dass sie ihre eigene Sache nicht vollenden, sie gehen ins Exil. Aber die Sehnsucht nach dem eigenen Reich, der Erfüllung des eigenen Lebensauftrags bleibt. Er darf den bösen Mächten nicht überlassen werden. Das richtige Königreich ist das eigene. Daher ist der Kampf unausweichlich.

Auf dem Schlachtfeld werden, genau wie heute, verschiedene Stufen der Konfliktbewältigung angewandt: a) durch Vermittler und Diplomaten, b) durch Friedenskommissionen, c) durch die Suche nach Verbündeten und Aufrüstung. Ebenfalls wie heute ließ sich der Krieg nicht vermeiden. Sowohl im privaten Umfeld als auch in der Weltpolitik lassen sich Hass, Gewalt und Neid nur durch das heilende Miteinander überwinden.

Die Kriege, die Sprache und Bilder des Mythos, müssen übersetzt werden in seelische Prozesse. Dann sind die Kriegsschauplätze in uns und sehr aktuell (Hass, Machtgier, Neid, Mobbing u. ä.). Wodurch geschieht dauerhafte Veränderung auf ein heilendes Miteinander hin? Das Epos stellt folgende Lösung vor:

  • Ein klares, leuchtendes Ziel, eine Vision: Sowohl die Kaudaras als auch die Pandavas willigen in den Krieg ein, aber Arjuna wählt den göttlichen Krishna als Wagenlenker und nimmt damit eine andere Dimension in sein Handeln auf, nämlich innere Intelligenz, Weisheit (buddhi).
  • Eine Motivation schaffen, die mein Herz erhebt.
  • Anhaltende Selbstkonditionierung, neue Gewohnheiten schaffen, dadurch ändern sich auch die neurobiologischen Prozesse.
  • Kleine Schritte tun und diese belohnen; so können Fortschritte von den Nerven erkannt und eingeordnet werden.

Im Epos und Märchen handeln Helden. Immer siegt das Gute, aber das Böse ist damit nicht ausgerottet. ‚Böse‘ ist eine moralische Bewertung. Es sollte besser als Teil des Lebens betrachtet werden. Licht und Dunkel, Werden und Vergehen gehören zum Leben.

Die Pandavas können nur ihr eigenes Königreich wiederfinden. Sie dürfen es auch nicht allein lassen. Und sie müssen viele Kämpfe bestehen, Niederlagen einstecken, sich Neid, Hass und Machtkämpfen aussetzen und wie Blinde nach ihrem eigenen Reich suchen.

Leid und Opfer

Wir sind alle irgendwann mit Blindheit geschlagen wie der blinde König Dhritarastra. Auch für uns gilt: Jeder Mensch ist berufen, in seiner Einzigartigkeit, auf seine und ihre ganz eigene Art, das Leben zu erkennen und zu verwirklichen. Dazu gehören Irrwege, Leid und oft auch Schmerzen. Martin Buber sagt, dass aus dem brodelnden Topf immer etwas ans Licht geholt werden kann. Und Augustinus: „Leid ist das schnellste Pferd zu Gott.“

Ein Exkurs in die Bhagavad Gita führte zu einem Vergleich des archaischen Opferbegriffs mit einem ethischen und spirituellen Opferverständnis. In der Bhagavad Gita besteht das Opfer im Opfern von Materiellem, wie Feuer, Wasser, Früchte, Tiere, Menschen, sowie in Bußübungen, in Riten, Fasten und Gelübden. Auf der ethischen Ebene kann Opfer verstanden werden als Wahrhaftigkeit, Nächstenliebe, Friedfertigkeit, Treue, Disziplin. Wer aus der „Erfahrung des großen Geheimnisses“ lebt, wessen Ich ein Nichts sein kann, in dem nur das Göttliche atmet, für den ist das Opfer ein „Genuss der Seele“: Der gibt aus der Fülle, ohne nach dem Ausgleich zu fragen, und dem wird viel mehr dazu gegeben, weil er oder sie ohne Zurückhaltung gibt. Dieses Geben geschieht ganz von selbst, ohne Entschluss und Anstrengung. Kennzeichen dieses spirituellen Opfers sind Hingabe, Gleichmut im Sinne einer tiefen spirituellen Ruhe, Aufrichtigkeit, Freigebigkeit und spirituelle Askese. Die Liebe gibt Zeit, psychische und spirituelle Kraft lässt eigene Vorstellungen los.

Was bedeutet die Bhagavad Gita für uns heute?

Außer dem Inhalt der Geschichten des Mahabharata interessierte uns die Frage, wo deren Bezug zur Gegenwart und ihre Allgemeingültigkeit zu finden seien, sprich, was all das mit uns zu tun hat.

Die Begegnung mit dem Mahabarata warf folgende Fragen auf:

  1. Was heißt Friedfertigkeit im Gegensatz zu nachgeben?
  2. Wem oder was gebe ich mich hin?
  3. Wo halte ich an Dogmen und alten Relikten fest?
  4. Wo setze ich mich wahrhaftig für das Wohl der Menschen ein?
  5. Was bedeutet es für mich, ein Nichts, ein Niemand zu sein?
  6. Wie werde ich aus dem „Macher“ zu einem Menschen, der an ein Höheres angeschlossen ist?
  7. Wohin lasse ich mich führen?
  8. Wodurch entsteht Erkenntnis?

Die Neurologie gibt vier Antworten:

  1. durch Annäherung, z. B. eine Zielsetzung
  2. durch Wahrnehmung, z. B. Meditation
  3. durch Bewegung, z. B. eine Veränderung
  4. durch Verdichtung, z. B. Disziplin, an etwas dranbleiben

Der Austausch in Kleingruppen über diese Fragen ließ uns Nähe und Verbundenheit spüren, weil wir denselben Weg gehen, jeder und jede auf ihre Weise.

Am Anfang des Kurses stand also die Fülle an Informationswissen, das den Ablauf als Initiationsweg erst verstehen lässt. Wohltuend war dann das Gespräch in Dreiergruppen. Hier konnte auch persönliche Begegnung stattfinden, denn zu Beginn des Kurses stießen wir zu einem bereits laufenden Schweigekurs dazu. Auch wenn wir uns zehn Minuten früher trafen, blieb wenig Gelegenheit, Kontakt aufzunehmen und außerhalb des Zendo waren wir in das Schweigen des Hauses eingebunden.

Die Morgeneinheiten gehörten den Yogaübungen und der Kontemplation. Die Positionen des Sonnengrußes und der Heldenhaltung ließen uns Qualitäten der Akteure des Mahabharata erfahren, z. B. „Stehe in der Kraft des Bhima, stehe wie ein Held.“ Hingabe wurde konkret eingeübt in verschiedenen Gebärden. In den Abendeinheiten klärten wir Fragen, sangen und lauschten Sanskrit-Mantren und tanzten sogar einmal frei nach den Klängen des Gayatri-Mantra in Freude und Hingabe. Es wurde zu einer schönen Möglichkeit, den anderen zu begegnen. Mit einer Kontemplation schloss der Tag.

Was bleibt an Erkenntnis?

Der Weg ist das Ziel. Das ist die neue Zielsetzung.

Gehen im Einklang mit dem spirituellen Weg bedeutet, nicht stehen zu bleiben, Mut zur Veränderung.

Leiden muss durch alle Schichten der Seele erlitten werden.

Der Weg der Kontemplation führt in die reine Wirklichkeit, in der kein Bemühen mehr nötig ist. Dabei werden die Zellen des Körpers schrittweise transformiert.

Ganz gleich, wie lang der Weg ist, es ist ein guter Weg. Es ist der Weg der Hingabe. Dabei geht jeder und jede den eigenen Weg. Wenn man sich bei den Wurzeln wieder trifft, dann ist ein Stück Frieden geschaffen.

Mit dieser Quintessenz gingen die Tage zu Ende. Insgesamt führte uns Barbara Schenkbier durch anregende und spannende Tage zwischen Themen aus dem alten Indien und unserer heutigen Zeit, vertieft durch Erkenntnisse der Neurologie. Das alles fand statt in einer angenehmen und interessierten Gruppe in der wohltuenden Atmosphäre des kleinen Zendo.

Hildegard Maria Seng,
geboren 1943, verheiratet, 4 Kinder. Studium an der Päd. Hochschule Berlin, 2. Staatsexamen zur Lehrerin. Seit 1971 Yogalehrerin (BDY/EYU), langjähriger kontemplativer Übungsweg, 1991–2001 intensive Schulung bei Franz-Xaver Jans. Seit 2006 Meditations- und Kontemplationslehrerin VIA CORDIS und Kontemplationslehrerin WFdK; Dozentin an verschiedenen Bildungsstätten in Deutschland und in der Schweiz, vertiefte Erfahrung mit Leibarbeit auf dem Kontemplationsweg.

Maria Kolek Braun,
Jahrgang 1962, verheiratet, Studium kath. Theologie, Germanistik und Sprechwissenschaft. Tätig als Gemeindeleiterin einer kath. Gemeinde im Zürcher Oberland bei Zürich. Auf dem Weg von Zen und Kontemplation seit 10 Jahren, Schülerin von Willigis Jäger.

 

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