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Das Thomas-Evangelium Logion 113: "Das Königreich des Vaters"
Autor: Stephan Köther
Es sprachen zu ihm seine Jünger: Das Reich, wann wird es kommen? – Es wird nicht kommen im Ausschauen danach. Man wird nicht sagen: Siehe hier! Oder: Siehe dort! Sondern das Reich des Vaters ist ausgebreitet über die Erde und die Menschen sehen es nicht.
Vor einigen Jahren las ich, dass die Bibel eine Zusammenstellung von verschiedenen Texten ist, welche die Kirche auserwählt hat. Somit war klar, dass es noch mehr Schriften aus der Frühzeit des Christentums geben müsste, und so begegneten mir die Aufzeichnungen aus Nag Hammadi.
In ihnen las ich das Thomas-Evangelium, von dem ich ausgehe, dass es einer der wenigen Texte ist, in dem man authentische Aussagen von Jesus hinterlassen bekommen hat. Die erste Ausgabe dieser Sinnsprüche erstand ich ohne Kommentar, denn ich wollte erfahren, wie diese Aussagen zu mir sprechen.
Alle anderen Texte der Bibel sind über gut zweitausend Jahre von Menschen interpretiert und übertragen worden. Viele der Aussagen des Thomas-Evangeliums sind aber nur verständlich, wenn man in der Gedankenwelt der Gnosis zu Hause ist, wenn die Gotteserkenntnis in der Welt gesucht wird und nicht in einer außerhalb von dieser existierenden personenhaften Existenz. Die Erkenntnisse des Thomas-Evangeliums erschließen sich aber nur denen, welche die geistigen Entwicklungen, die in den Sprüchen beschrieben sind, selbst erfahren haben. Heute hat die Menschheit eine Bewusstseinsstufe erreicht, die es ermöglicht, die Botschaften von Jesus auch mit Hilfe der Wissenschaften wie Psychologie, Mathematik, vergleichende Religionswissenschaft, Philosophie, Chemie, Quantenphysik, transpersonale Psychologie neu zu erfassen. Vielleicht wurden die Aufzeichnungen deshalb so lange im Wüstensand Ägyptens für die Menschheit aufbewahrt.
Die über den Sinn ihrer Existenz nachsinnende Seele kommt irgendwann an den Punkt, wo sie versucht in direkten Kontakt mit dem zu kommen, was wir Abendländer Gott nennen. Wahre Religion war schon immer der Augenblick, die Feier des Lebens, die direkte Kommunikation mit dem Göttlichen, aus dem alles kommt und in das alles wieder zurückfließt. Der suchende Mensch spürt den Ruf des Göttlichen in sich, die Sehnsucht nach Vereinigung, die er in der materiellen Welt nicht gefunden hat.
Wo es eine Nachfrage gibt, da existiert auch oft ein Angebot – und im Bereich der Rückbindung (Religio) an das Göttliche entstanden so zwei Wege. Der eine ist die persönliche Gotteserfahrung, der andere betrifft die Aussagen und Regeln der auserwählten Gottesvertreter auf Erden. Im zweiten Fall werden Macht erhaltende Lehrinhalte gepflegt, Macht schädigende Interpretationen der alten Texte ignoriert oder umformuliert. Für mich ist es entscheidend, wer den suchenden und fragenden Menschen die Lehrinhalte von Jesus und den vorhandenen Glaubenstexten, wie denen des Thomas- Evangeliums, vermittelt. Die persönliche Gotteserfahrung, die direkte Kommunikation mit diesem vom Intellekt nicht zu erfassenden Unfassbaren ist für mich die wahre Religion.
Zurück zum Thomas-Evangelium. Als ich es zum ersten Mal in den Händen hielt, war ich fasziniert, berührt, erfasst, für mich wahre Worte des Meisters in den Händen zu halten. Mir war, als würde ich tatsächliche Mitschriften eines seiner Jünger geschenkt bekommen, die dieser bei Vorträgen mitgeschrieben hat, als es noch keinen Buchdruck oder Medien gab. Ich konnte durch diesen Text an den Lehrreden des Meisters persönlich teilnehmen, so, als wäre ich an ihrem zeitlichen Entstehungspunkt dabei gewesen.
Besonders fasziniert war ich damals von Logion 113.
Es sprachen zu ihm seine Jünger: Das Reich, wann wird es kommen? – Es wird nicht kommen im Ausschauen danach. Man wird nicht sagen: Siehe hier! Oder: Siehe dort! Sondern das Reich des Vaters ist ausgebreitet über die Erde und die Menschen sehen es nicht.
Wir suchen Erlösung, Antworten, Glück oft im Du, im Außen – ein anderer soll es für uns machen. In frühen Jahren die Eltern, die Familie, später der Verein, die Gemeinschaft, der Partner, die Partnerin, dann Jesus, Shakyamuni Buddha, Krishna, Shiva … Wer nicht auf die Suche geht, wer nicht auf dem Weg ist, der lebt oft in einem eingeschränkten Bewusstseinszustand, der ihm nur die Sicht auf die materielle Welt erlaubt. Zumindest ist die Sicht auf die spirituelle, mystische Welt, die transpersonale Erfahrung, verdeckt.
„Das Himmelreich ist bereits ausgebreitet über die Erde, aber die Menschen sehen es nicht“.
Dieser Satz beeindruckte mich als Fotograf besonders – man kann das Himmelreich sehen, denn es ist bereits da. Es kommt nicht nach unserem Tod, wie wir es bisher gelernt haben. Und da ist niemand, der über uns richtet, uns belohnt oder bestraft. Bereits mit unserer Geburt sind wir beschenkt worden, zu leben und diese Schöpfung zu genießen. Wir oder die Umstände können unser Leben aber auch zur Hölle machen. Krieg, Umweltkatastrophen, das Böse existieren in dieser Schöpfung eben auch – das Leben ist dual angelegt, und daher kann auch diese Energie nicht aus der Schöpfung herausfallen. Wirklich verstehen und akzeptieren können wir das wahrscheinlich nicht. Diese Dualität zieht sich durch das ganze Universum; Galaxien entstehen und vergehen wieder, Tag und Nacht, Mann und Frau, heiß und kalt, plus und minus, Sommer und Winter, geboren werden und sterben. Das Leben möchte weitergehen, es ist sein Lebenswille, der gibt und sich vorbehält, dieses Geschenk auch wieder zu nehmen, um es dann jemand anderem zu schenken. Das Leben an sich endet nie. Letztens las ich irgendwo, dass die Chance, geboren zu werden bei 1:100000 Milliarden liegt – was für ein Geschenk. Nur in der Dualität kann diese Urenergie fließen. Der leere Kosmos ist scheinbar nicht leer, denn aus ihm kommen alle Dinge, und dorthin kehren die Dinge auch wieder zurück. Für mich ist diese Leere der Schöpfung diese göttliche Energie, die alles erschafft und leben will. Sie hat für mich eine weiblich anmutende, liebevolle, wohlwollende Präsenz, die natürlich nur in der Dualität mit ihrem männlichen Gegenpol existieren kann.
Diese Urenergie, diese Lebensenergie fließt im Makrokosmos wie im Mikrokosmos und auch in uns. Wir selbst sind diese Urenergie, wie jede Blume, jeder Himmelskörper, jeder Wassertropfen, jedes Quantenteilchen. Wir sind ES selbst, wie es auch Jesus schon formuliert hat: „Ich bin es selbst“ (Lk 24, 39). Für mich ist dieser Gedanke faszinierend, und er fordert mich heraus, ihn aus dem Intellekt weiter ins Gefühl zu bekommen, dann berührt er sogar die Wiedergeburt und Auferstehung – das eigene Leben kann durch diese Erfahrung eine vollkommen neue Dimension erhalten.
Logion 113 stellt meines Erachtens genau diese Sichtweise in den Vordergrund.
„Das Königreich des Vaters ist über die Erde ausgebreitet und die Menschen sehen es nicht“.
Wem diese neue Sicht möglich ist, der sieht in der gesamten Schöpfung dieses göttliche Energiefeld und entdeckt dort das Königreich des Himmels. Vorhin erwähnte ich bereits, dass mir als Fotograf die Faszination an der Natur schon immer ein Rätsel aufgegeben hat, ich fühlte mich von der Natur immer wie gerufen. Nun, nachdem ich Logion 113 entdeckt hatte, erschließt sich in ihr, der Natur, eben die Schöpfung, die Urenergie, das Göttliche, und ich bin ein Teil davon und nicht getrennt. Ich und Es sind beides zusammen Eins.
Dieses Geheimnis kann man sehen, in jeder Blume, im Mitmenschen, der Erde, dem Mond, dem Mikro- und dem Makrokosmos, in allem.
Mit jedem Augen-Blick kann man nach der Schönheit des Lebens streben. Daher beschäftigen sich die Menschen seit Anbeginn ihres Sich-Selbst-Bewusst-Seins mit Malerei, Bildhauerei, Düften, Architektur, Ikebana, Teezeremonie, Meditation, Gedichten, Mode, Fotografie. Die Entwicklung führt dann irgendwann von der äußeren Schönheit und dem Materiellen zur Innerlichkeit. Das Himmelreich, welches Logion 113 meint, kann man somit nicht nur in der äußeren Welt sehen, sondern man kann seinen Blick auch auf die innere Welt lenken, welche sich in uns befindet, wenn wir all unsere Sinne in unser Selbst lenken. Dieser Weg der Kontemplation, der Innenschau, des Gebetes der Stille findet sich in allen großen Religionen. Nur dort können wir dem Göttlichen wirklich begegnen.
„Die Stille ist ein Gebet. Gott die Stille anbieten – das ist es. Die Stille eint, sie eint auch mit Gott, viel mehr als Worte. Die Stille heilt. Sie ist das einzige wirkliche Mittel gegen Stress. Die Ruhe macht etwas mit uns. Ungeahnte Kräfte liegen in der Ruhe – ordnende, heilende, harmonisierende Kräfte. Sagt uns nicht schon die Astrophysik, dass in den leeren Räumen des Universums die stärksten Energien zu Hause sind?“ (Willigis Jäger).
Wer in diese transpersonale Erfahrung gelangt, der entwickelt in sich eine innere Schönheit. Diese kann man nicht machen, man kann sich ihr nur empfangend öffnen. Daher sind die Kontemplation, das Zazen und andere spirituelle Versenkungswege Wege, die in diese Einheitserfahrung führen. In ihr können wir der göttlichen Urenergie begegnen, sie spüren, ihr lauschen, nur dort können wir sie wahrnehmen, wenn keine Termine und andere Tätigkeiten sie verdecken. Nur wenn wir uns entleeren, von Bildern, Gedanken, Anhänglichkeiten, können wir in diese absolute Präsenz gelangen.
„Der Mensch lasse die Bilder der Dinge ganz und gar fahren und mache und halte seinen Tempel leer. Denn wäre der Tempel entleert, und wären die Fantasien, die den Tempel besetzt halten, draußen, so könntest du ein Gotteshaus werden, und nicht eher, was du auch tust. Und so hättest du den Frieden deines Herzens und Freude, und dich störte nichts mehr von dem, was dich jetzt ständig stört, dich bedrückt und leiden lässt“ (Johannes Tauler).
Apostel Paulus bringt es im ersten Korintherbrief auch sehr deutlich zur Sprache: „Wißt ihr nicht, daß ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt? Wenn jemand den Tempel Gottes verdirbt, den wird Gott verderben, denn der Tempel Gottes ist heilig; der seid ihr“ (1 Kor 3, 16). Wir selbst sind also diese Gottesenergie, und wie wir uns selbst verhalten, so erhalten wir es auch zurück. Das was wir aussenden, kann also ein liebevoller Beitrag zum morphologischen Feld (Sheldrake) sein oder genau das Gegenteil. Wenn wir aber unsere Emotionen mit Abstand betrachten, können wir in einer gewissen Grundruhe aus der Kontemplation in den Alltag zurückkehren, dann können wir in einer liebevollen Energie zum Geschehen jedes Augenblicks bleiben. Hierdurch werden wir selbst zu einem kreierenden Sender von positiver Lebensenergie in unser empfangendes Umfeld.
„Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm“ (1 Kor 4, 16).
Schönheit im Innen und im Außen berührt uns. Wenn wir jeden Augen-Blick in dieser liebevollen Energie präsent sein können, erschließt sich uns eine Dankbarkeit für das, was uns das Leben schenkt. Dieses Himmelreich der Logion 113 erinnert uns an eine höhere Wirklichkeit der Realität, der wir uns durch diese Präsenz nähern können. Durch dieses Tor gelangt man in das Reich der Inspiration und sie offenbart uns all das, was an einem Menschen oder einer Situation kostbar ist.
Was ist aber diese Liebe, mit der wir in das Himmelreich, durch die wir in die Rückbindung zur ersten Wirklichkeit gelangen? Ich werde dieses Rätsel nicht lösen, wir können uns aber vielleicht ein wenig nähern, indem wir Vertrauen zu diesem Wunder haben, das „über die Erde ausgebreitet ist“.
Dieses Vertrauen entsteht aus liebevollen Gedanken, einer inneren Kommunikation, die uns berührt, mit Respekt erfüllt, Freundschaft schenkt, dabei verbindlich ist. Hierdurch können wir unsere Sorgen besser loslassen und uns der Sinnlichkeit des Lebens hingeben. Genau diese Hingabe führt dann letztendlich in die eigene Gabe.
Jeder von uns hat eine persönliche Begabung.
Jesus, Buddha, Mutter Teresa, Gandhi, Willigis Jäger sind spirituelle Lehrer, und nicht jeder von uns ist dazu berufen. Wir können aber auch eine Begabung zum Koch haben, eine gute Mutter sein, ein guter Vater, Elektriker. Wenn wir unsere Gabe finden, können wir aus dieser Liebe zum Umfeld zu einer Bereicherung, zu einem Geschenk für dieses werden. Wie finde ich aber diese spezielle Gabe, die mir gegeben wurde? Man merkt es an der Freude, mit der man diese Tätigkeit ausführt, wenn alles leicht ist, im Fluss, man dabei erfüllt ist und womöglich seine Erfüllung findet. Auftretende Schwierigkeiten fallen einem leichter und man hat mehr Energie und Kraft, um diese Aufgabe zu erfüllen.
Begabungen können sich auch ändern, eine löst die andere Gabe womöglich ab. Es kann eine Zeit geben, in der eine Frau ganz darin aufgeht, Mutter zu sein. Wenn das Kind dann erwachsen ist, kann sich eine andere Aufgabe zeigen, in der diese Frau dann ihre ganz spezielle Begabung lebt. Wir gehen immer in die Richtung, in die wir denken. Wir kreieren daher zum Teil eben auch unsere Realität. Denke immer einen besseren Gedanken als den vorhergehenden, um dein Denken schrittweise positiv zu verändern und schließlich deine Gabe zu entdecken, zu leben. Somit ist die Entdeckung der eigenen Gabe die Gleichzeitigkeit von Selbst- und Gotteserkenntnis. Durch mich möchte ES als dieser Mensch mit dieser Gabe durch die Welt gehen.
In Logion 42 steht: „Jesus sprach: Werdet Vorübergehende“!
Der Wunsch des Menschen, die Dualität des Lebens aufzuhalten ist das, was Leiden verursacht. Der Wechsel von Regen und Sonne ist der normale Lauf der Dinge, und wer es schafft, das gehen zu lassen, was gehen möchte und in dem zu bleiben, was bleiben möchte oder neu kommt, der erwacht zu diesem immer vorhandenen Urgrund der Stille und Ruhe, zu diesem Vertrauen in die Richtigkeit aller Dinge. Ich denke, das meint Jesus mit dem Hinweis auf Wiedergeburt, Auferstehung und dem Himmelreich, welches bereits über die Erde ausgebreitet ist.
Wie die Logien 3 und 51 verweist die Logion 113 auf den gegenwärtigen Augenblick. Ein zukünftiger Himmel steht somit gegen die Gegenwärtigkeit des Jetzt. Wir können realisieren, dass wir nicht auf den Himmel warten müssen, weil das Himmelreich bereits über die Erde ausgebreitet ist. Wir können in jedem Augenblick des Lebens, in jeder Situation uns selbst und Gott erkennen. Diese Gelegenheit können wir ergreifen und müssen nicht auf sie warten. Sie ist immer da!
In Logion 3 steht - sich erkennen heißt, sich als erkannt zu entdecken. Ich interpretiere das so, bei jedem Akt der Erkenntnis ist ein hintergründiger Geist beteiligt, der sich durch uns mitteilt und uns das Geschenk macht, an seinem Leben teilzuhaben. Zu fühlen, dass man liebt, heißt gleichzeitig zu entdecken, dass man geliebt wird. Amo, ergo sum – ich liebe, also bin ich. In jedem Akt der Liebe ist eine hintergründige Liebe beteiligt, die sich uns schenkt, an ihrem Leben Freude zu finden. Wiedergeburt bedeutet für mich, in dieser Tiefendimension der Liebe zu verweilen, die weder die Umstände des alltäglichen Lebens noch der Tod uns nehmen können – zu wissen, zu fühlen, zu erfahren, dass uns in jedem Augenblick unendlich viel gegeben wird.
Jede Blume, jeder Windhauch, der deine Haut streichelt, jede Biene, jeder Augenblick, jeder Mensch, jeder Sonnenstrahl, der dich wärmt, jeder singende Vogel erinnert dich daran – das Leben ist schön. Du bist von Gott gewollt, und alles geschieht zu deinem Besten. Ich empfinde Vertrauen, Freude und Liebe zu dieser ersten Wirklichkeit – auch wenn wir das in schwierigen Momenten oft noch nicht verstehen.
Stephan Köther Lehrbeauftragung in der „Wolke des Nichtwissens – Kontemplationslinie Willigis Jäger“. Lehrer für Fotografie im Lette-Verein Berlin und staatlich geprüfter Fotodesigner.
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